Letztlich war alles nur eine Frage des richtigen Moments und des richtigen Ortes, aber sehr bald schon würde Rahff einem Attentäter in die Arme laufen. Und noch immer hatte er keinen blassen Schimmer, wie er etwas an dieser Tatsache ändern konnte. Ohne einen einzigen Taler Silber in der Tasche und ohne einen einzigen Verbündeten standen seine Möglichkeiten schlecht, auch nur die Nacht zu überleben. Wo sollte er schlafen? Er traute sich nicht einmal aus dieser Schenke heraus. Wobei er sich eingestehen musste, dass er sich selbst hier beobachtet vorkam, obwohl niemand zu ihm rüber blickte. Er prüfte es selbst alle paar Augenblicke, indem er verstohlen unter seiner Kapuze umher sah.
Nun, da auch Desiderius gegangen war, erhielt kalte Einsamkeit Einzug in Rahffs Geist. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich klein in der Welt. Wie ein vertrocknetes Blatt, das vom Herbstwind auf das Meer hinausgetrieben wurde und in den unendlichen Tiefen der dunklen Gewässer unterging. Er war zum ersten Mal ganz allein auf sich gestellt. Ein Bär unter Wölfen.
Was, bei den verfluchten Göttern, sollte er denn jetzt bloß tun?
Plötzlich spürte er etwas Kaltes an seiner Kehle. Eine Dolchklinge, geführt von einer tätowierten Hand. Jemand trat in die Scherben auf dem Boden neben Rahffs Bank, sie knirschten laut unter dem schweren Stiefel. Ein langer Schatten fiel auf den Tisch.
»Zeig mir dein Gesicht, Fremder!«, forderte eine kratzige Stimme. Der Mann sprach mit der Autorität eines Menschen, der es gewohnt war, dass man ihm umgehend gehorchte.
Trotzig hob Rahff den Kopf. Ihm blieb nichts anderes übrig, da sich die geschärfte Schneide des Dolches in sein Kinn bohrte und es hochhob, bis Licht auf seine Züge fiel.
»Was haben wir denn hier?«, säuselte die hässliche Fratze, die über Rahff ragte.
Der Mann, dessen Dolchklinge Rahffs Kehle bedrohte, trug einen schlammigen Umhang über einem rissigen, dunklen Lederbrustpanzer, seine Beinlinge waren aus dünnem Stoff, was es ihm erlaubte, sich beinahe lautlos zu bewegen. Wurfdolche waren über seine Brust gespannt, ihre Griffe bewegten sich bei jeder Atmung auf und ab. Sein Gesicht war durch tiefe Kerben gezeichnet, vermutlich waren die Hautkrater Rückstände einer alten Pockenerkrankung. Eine lange, S-förmige Narbe zog sich über seine Stirn und verzerrte seine linke Augenbraue, sodass es wirkte, als blickte er durchweg skeptisch drein. Seine schmalen Augen, die Nase, deren Form einem Krähenschnabel gleichkam, und das untersetzte Kinn rundeten das Gesamtbild ab. Ein Widerling, wie er im Buche stand. In seinen kleinen, schwarzen Augen troff es nur so vor Bösartigkeit.
»Du bist ja ein ganz Hübscher«, züngelte der Fremde. Er klang wie eine Schlange, und tatsächlich streckte er Rahff provokant eine gespaltene Zunge entgegen. »Was führt den feinen Herrn hier her?« Er betonte das letzte Wort am Ende jedes Satzes, indem er es deutlich in die Länge zog.
Rahff seufzte und ersparte sich eine Antwort. Stattdessen nahm er die Arme vom Tisch und drückte den breiten Rücken durch, wodurch er auf Augenhöhe mit Krähenfratze war, obwohl er noch immer auf der Bank saß.
Krähenfratze verlor sein verdorbenes Grinsen, das böse Funkeln in seinen schwarzen Augen erlosch. Er sah sich nach allen Seiten um. Seine Gestalt war von fünf seiner Anhänger umringt. Die Männer waren nicht weniger hässliche Gestalten, deren stumpfe Blicke nichts Gutes erahnen ließen. Doch auch sie schienen von Rahffs Größe recht beeindruckt und dahingehend beruhigend kleinlaut.
Räuspernd nahm Krähenfratze die Klinge runter und steckte sie zurück in die Scheide unter seinen Umhang. Er streckte unscheinbar den Rücken durch, worüber Rahff nur schmunzeln konnte. Denn noch immer waren sie auf Augenhöhe. Vorausgesetzt, Rahff würde nicht aufstehen.
»Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?«, hakte Rahff schließlich gelangweilt nach.
Erneutes Räuspern. Dann wieder diese kratzige, kalte Stimme: »Ihr habt Euch mit einem Jungen unterhalten.«
Es war keine Frage, Krähenfratze musste diese Information von einem der anderen zwielichtigen Gäste dieses bescheidenen Etablissements zugetragen worden sein. Vermutlich war er auf der Suche nach Desiderius. Was erklären würde, weshalb dieser so schnell verschwunden war.
Rahff schüttelte den Kopf und wandte den Blick wieder nach vorne, um zu signalisieren, dass er kein weiteres Interesse an einem Gespräch mit dem Fremden hatte.
»Mir kam zu Ohren, Ihr hättet mit ihm gespeist«, setzte Krähenfratze hinterher.
»Kann mich nicht erinnern«, log Rahff souverän.
»Meine Freunde hier erzählen etwas anderes.« Krähenfratze klang verärgert.
Rahff blickte zu ihm auf und hielt ihn lange mit seinem Blick gefangen. Kraftvoll. Drohend. Unbeugsam, wie er geboren wurde. »Dann haben Eure Freunde zu tief in ihre Becher gesehen. Ich sitze hier schon den ganzen Abend allein.«
Der geradezu überlegene Blick aus Rahffs ernsten Augen, ließ Krähenfratze seinen Zorn zurückhalten. Er beherrschte sich, so gut es einem Mann wie ihm möglich war, da er sich seine Chance, gegen Rahff zu bestehen, bereits ausgerechnet hatte.
»Vielleicht habt Ihr ihn ja gesehen. Ein grünäugiger, frecher Bengel. Groß, drahtig, rabenschwarzes Haar, Ziegenbärtchen. Wohin ist er gegangen?«, versuchte er auf andere Weise, Rahff Informationen zu entlocken. Vermutlich glaubte er, Rahff wollte sich nur aus Ärger heraushalten und würde dankbar jeden Strohhalm ergreifen, der ihn aus dem Blickwinkel der Bande zog. Ganz im Sinne von: Sag mir, wo er ist, dann lass ich dich in Ruhe.
Rahff dachte gar nicht daran. »Hab den Jungen nicht gesehen, Mann! Und jetzt verpiss dich!«
Das brachte Krähenfratze dazu, wütend die dünnen Lippen zu kräuseln. Er fuhr sich mit der tätowierten Hand unter die Kapuze und streifte sie ab. Ein kahlrasierter Schädel kam zum Vorschein, aus dem dunkle Stoppeln sprossen. Ein Kopf, geformt wie ein übergroßes Ei, mit dem Gesicht einer Krähe. Die rechte Schläfe und das Ohr waren ebenso wie die Dolchhand mit schwarzen Kreisen und Spiralen übersäht. Ewigwährende Hautbemalungen, wie man sie nur vom Volk der Waldmenschen kannte, zu jenem Krähenfratze jedoch nicht gehören konnte.
Waldmenschen waren schließlich dafür bekannt, Gewalt zu meiden, während dieses frevelhafte Exemplar eines Menschen, das sich gerade neben Rahffs Tisch anschickte, Rahff metaphorisch ans Bein zu pissen, Ausdruck purer, unverfälschter Gewalt war.
Krähenfratze fuhr mit den Fingern über die vielen goldenen Ringe, die seine Ohren zierten. Der Schmuck klimperte, es mussten je Ohr mehrere Dutzend Ringe an ihm hängen. Ein unglaubliches Gewicht, dass die Lauscher nach unten zu ziehen schien.
»Ich will Euch wirklich keinen Ärger machen, Fremder, wenn Ihr mir jedoch nicht helfen wollt, werden wir unsere Antworten wohl auf andere Weise aus Euch herausholen müssen.« Krähenfratze ließ provokant die Fingerknöchel knacksen.
Lächerlich! Rahff könnte ihm die Faust mit einer Hand brechen, so erbärmlich klein und gebrechlich war sie.
»Tatsächlich?« Gänzlich unbeeindruckt glitt Rahff von der Bank, die umgehend in ihre ursprüngliche Form zurücksprang, nachdem sein Gewicht ihre Fläche nicht mehr nach unten drückte. Er richtete sich zu voller Größe vor der Bande auf und warf einen Schatten auf ihre Gesichter. Die Männer wichen zurück, Krähenfratze musste den Kopf in den Nacken legen. Es wurde still in der Schenke, alle Gespräche verstummten, alle Köpfe drehten sich zu ihnen um.
Rahff stemmte seinerseits die linke Faust in seine rechte Hand. Das Geräusch seiner sich einrenkenden Glieder hallte dumpf im Raum wider. »Und wie, wenn ich fragen darf?«
Krähenfratze musterte Rahff, als überlegte er sich, ob die geforderten Informationen einen Faustkampf mit ihm wert waren.
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