Wir beide könnten niemals Brüder sein.
Wie bei den Göttern sollte er denn aus diesem Giganten schlau werden? Desiderius ärgerte sich bis ins Mark. Zu gerne hätte er Rahffs Absichten durchschaut, doch der Silberlöwe verbarg sich gerne hinter vagen Worten und wankelmütigen Taten.
Ich würde dich vermissen.
Nicht hier, nicht jetzt.
»Arght!« Desiderius trat gegen etwas Unsichtbares und ging dann weiter, die Arme vor der Brust verschränkt. Er starrte auf seine Füße, während er über den runden Marktplatz schlenderte. Pflastersteine zeichneten ein Mosaik aus hellem und dunklem Grau. Weshalb die Erbauer sich solche Arbeit gemacht hatten, verstand er nicht, denn nur die Vögel konnten sich an diesem Bild ergötzen.
Vielleicht blickte ja der Novize, der oben im Glockenturm saß und dreimal am Tag – sollten keine Vermählungen oder Beisetzungen stattfinden – die Glocke läutete, gerne darauf hinab.
Desiderius machte sich etwas vor, er suchte nach Gründen, um Rahff den Rücken zu kehren. Letztlich sollte er sich selbst eingestehen, was er tief im Inneren bereits seit der Nacht wusste, als Rahff seinen Nacken liebkost hatte. Er fürchtete sich. Fürchtete sich davor, das zu bekommen, was er sich ersehnte, weil man es ihm dann wieder wegnehmen könnte. Er hatte furchtbare Angst, etwas zu verlieren, das er wirklich mochte.
Deshalb wollte er das, was er fühlte, niemals aussprechen, und genoss das stille Begehren. Wenn er es nicht aussprach, hatte er auch keinen Anlass, sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob seine Sehnsucht verboten war und ihm sogar den Tod bringen konnte. Rahff hingegen schien drauf und dran, dieser unausgesprochenen Sache zwischen ihnen Worte zu verleihen, ihr Macht zu geben.
Geh lieber , riet ihm sein Verstand, bevor du Rahff Macht über dich verleihst.
Denn so gern er ihn auch zu haben glaubte, das konnte er nicht geschehen lassen. Markesh sollte der letzte Mann gewesen sein, der ihn an eine Leine genommen hatte.
An einem Bäckerstand wurde frische Ware feilgeboten. Die Brezel und die Semmel schienen gerade erst aus dem Ofen zu kommen, sie dampften sogar noch. Nebenan holte ein Fischer gerade aus einem Räucherofen gegarte Aale, die an Seilen hingen. Der köstliche Geruch ließ Desiderius´ Magen knurren und erinnerte ihn daran, dass er nicht gefrühstückt hatte.
Leider würden die Taler in seinem Beutel nur noch für einen Becher Wein reichen. Sofern er denn irgendwo in dieser Stadt eine Schenke fand, die wässrigen, billigen Wein ausschenkte.
Hier würde er gewiss nicht fündig werden, schließlich befand er sich im Kaufmannsviertel, wo sich die Villen aneinanderreihten wie Bäume im Wald.
Es gab in der Nähe des westlichen Stadttores eine Schenke, die den wunderbaren Namen »Der Seemanstanz« trug. Er hatte die heruntergekommene Holzhütte entdeckt, als er Rahff die Straße entlang schleppte. Dort gingen die weniger hartarbeiteten Fischer ein und aus, also musste der Fusel für Lau in die Kehlen gegossen werden.
Gerade als er sich umdrehen und dorthin pilgern wollte, stockte er jedoch. An einem Stand, gegenüber der leckeren Waren des korpulenten Bäckers, entdeckte er Augen, die ihm nicht fremd waren. Er grinste überrascht.
Na sieh mal einer an!
Wie ein interessierter Käufer schlenderte er hinüber zu dem Stand, das Stroh auf dem Dach wurde vom Wind angehoben. Die Waren darunter waren interessant, nützten ihm als heimatlosen Dieb jedoch nichts. Kelche, Krüge aus Bronze. Broschen aus dem fernen Westen. Dekorative Tonfiguren, Marmorskulpturen, Gemälde in verzierten Rahmen und allerlei niederwertiger Schmuck.
»Das ist ein wirklich schöner Puma.« Desiderius strich mit den Fingern die majestätische Muskulatur des Anhängers nach. Er war aus einem schwarzen Horn geschnitzt und zeigte die Raubkatze im Sprint. Ziegenleder diente dem Anhänger als Kette.
Der Junge, der damit beschäftig war, Holzkisten voll Krimskrams hin und her zu schleppen, richtete sich auf, um ihn anzusehen. »Mein Meister macht Euch einen guten …«, er stockte schockiert, als er Desiderius erkannte, »…Preis.« Das letzte Wort kam geflüstert und klang überhaupt nicht mehr danach, als wollte er etwas feilbieten. Seine kristallblauen Augen waren geweitet vor Panik.
»Du hast das Diebeshandwerk ja schnell aufgegeben«, bemerkte Desiderius. Er musterte den dunkelhaarigen Burschen und schätzte ihn auf dreizehn, allerhöchstens fünfzehn Sommer.
Dem kleinen Taschendieb hatte es die Sprache verschlagen.
»Gibt dir dein Vater nichts zu essen?« Desiderius nickte zu dem Händler, der sich am Stand neben an mit einem anderen Kaufmann unterhielt. Er war in gelbe Seide mit grünen Ornamenten gekleidet und trug einen spitzen Hut mit bunten Federn, seine Gestalt war schlank aber nicht unterernährt, seine Stiefel wirkten neu, der Schnauzbart war frisch gestutzt. Ein ansehnlicher, ehrlicher Mann. Zumindest auf den ersten Blick.
»Warum musst du stehlen?«, fragte Desiderius den Jungen.
Dieser starrte ihn flehentlich und zugleich ängstlich an. »Bitte, sagt ihm nichts! Er ist nicht mein Vater. Wenn er erfährt, dass ich…«
»Ein schöner Anhänger, nicht wahr?« Der Händler hatte Desiderius bemerkt und kam zum Stand herüber, er lächelte einladend. »Nehmt ihn ruhig in die Hand, guter Mann, ihr werdet keinen Makel erkennen.«
Desiderius sah zwar nicht wie jemand aus, der sich etwas aus Schmuck machte, doch der Blick des Händlers brauchte nur zu dem Beutel an seiner Hüfte zu zucken, um in Wallung zu geraten. Geld stank eben nicht.
Desiderius schielte zu dem Jungen, der ihm stumme aber deutlich um Gnade flehende Blicke zuwarf. Es war beinahe zum Lachen.
Der Händler legte dem kleinen Taschendieb vertraut einen Arm um die Schultern, wie es der Vater bei dem Sohn getan hätte.
Er ist nicht mein Vater…
Sklaverei. Ganz gewiss. Und nichts Seltenes, wenn auch verboten. Doch was bliebe dem Burschen anderes übrig, als sich damit abzufinden. Desiderius könnte die Wachen rufen, doch dann würde er nicht nur auf sich aufmerksam machen, sondern den Jungen auch seiner einzigen verlässlichen Nahrungsquelle berauben.
»Eigentlich suche ich nach etwas … Exotischerem«, wandte Desiderius sich an den Händler. »Habt Ihr Krallen oder Zähne?«
Der Händler geriet in helle Aufruhr. »Gewiss, guter Mann! Gewiss!« Er bückte sich selbst, statt dem Jungen zu befehlen, danach zu suchen. Das sprach immerhin für ihn. Nicht jeder Sklavenhalter musste ein Sadist sein. Desiderius erlaubte sich kein Urteil.
Während der Händler mit Suchen beschäftigt war, stibitzte Desiderius den Pumaanhänger vom Tisch und ließ ihn ganz beiläufig in seinen Taschen verschwinden.
Der Bursche beobachtete ihn dabei und schaute ihn mit großen Augen an.
Desiderius zwinkerte. So macht man das!
Daraufhin grinste ihn der Bursche bewundernd an, wobei sein Lächeln eine Spur mokant wurde. Zum ersten Mal in seinem Leben kam Desiderius in den Genuss des stolzen Gefühls, wenn jemand zu ihm aufblickte.
Auf dem Tisch vor ihm wurden allerlei Anhänger ausgebreitet, Bärenkrallen, Nachtschattenkatzenfänge, Luchsknochen, manche sogar mit Federn. Ursprünglich kamen diese einfachen Arbeiten aus dem Volk der Waldmenschen, das konnte er an den geflochtenen Bändern und der guten Qualität der Krallen erkennen.
»Mhm. Sehr schön. Sehr schön«, stimmte Desiderius zu, während er die Ketten mit einem kritischen Auge inspizierte. »Aber wisst Ihr, ich dachte mehr an Löwenkrallen.«
Der Händler suchte weiter, musste aber enttäuscht eingestehen, dass ihm diese Besonderheit fehlte.
»So ein Pech. Nun ja, vielleicht beim nächsten Mal.«
Desiderius schlenderte weiter, kramte jedoch eine der drei letzten Münzen aus seinem Beutel und drehte sich noch einmal um. »He!«
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