Das verstand der Kleine nur zu gut, er verspannte sich merklich. Desiderius ließ ihn los, mit großen kristallblauen Augen drehte der Junge sich zu ihm um, blinzelte unter seinem dunkelbraunen Haarschopf. Er stammelte wortlos, dann rannte er davon.
Hoffentlich war ihm das eine Lehre.
Nach dieser Begegnung hatte Desiderius sich die Stadt angesehen, vor allem die Mauern. Die Zinnen waren stark bewacht, außerdem war die Mauer wahrlich zu hoch, um sie zu erklimmen, und er wagte zu bezweifeln, dass es im Palastviertel geeignetere Mauern zum Übersteigen gab.
Er schlich sich zu den Abwassergittern, begutachtete ihre Schlösser. Manche von ihnen besaßen gar keine Türen, nur jene, die bei einer Besetzung der Stadt einen Fluchtweg bieten konnten.
Nichts von den Wegen, die Rahff nehmen konnte, schien der idealste, also musste er auf sein Bauchgefühl hören. Zum Palast kam er nicht, der Weg dorthin war zu gut bewacht, und er fürchtete sich davor, erkannt zu werden, wenn sie ihn fassen sollten. Sein Vater wäre außer sich, wenn er davon erfuhr!
Oder vielleicht auch nicht, gäbe es ihm doch eine Gelegenheit, sich endgültig von seinem Bastard zu lösen.
Schließlich ging Desiderius zurück zu Rahff und berichtete ihm am Lagerfeuer von seinen Erkenntnissen. Gemeinsam hatten sie einen Plan ausgetüftelt, der so offensichtlich und einfach schien, dass er Erfolg erzielen sollte. Wie Rahff jedoch zum Palast vordringen wollte, ohne von einem Scharfschützen kalt gemacht zu werden, stand auf einem anderen Blatt.
»Bring mich so weit hinein wie du kannst«, hatte Rahff mit entschlossener Stimme erwidert, »den Rest überlasse mir.«
Nun war der Moment des Aufbruchs gekommen. Rahff hob Nebelkralle aus dem hohen Gras und setzte ihn in den Sack, der an Schnees Sattel befestigt war. Die kleine Raubkatze grummelte unzufrieden, fand sich aber mit ihrem Schicksal ab. Mittlerweile hatte er ordentlich zugelegt und an Masse gewonnen. Tierkinder wuchsen schneller als Menschen, bald würde der Sack nicht mehr genügen.
Von ihrem Standpunkt aus konnten sie aus einem lichten Wäldchen über grüne Ebenen zum Stadttor blicken, ohne bemerkt zu werden. Desiderius sah nachdenklich hinüber zu der Menschenschlange, die in die Stadt drängte.
»Ich lasse Schnee hier.« Rahff trat neben ihn und Fels, Desiderius sah ihn an. »Wenn du also …« Er brach ab, lächelte schüchtern und rieb sich dabei den Nacken. Nun wirkte er wirklich nervös. Seufzend setzte er erneut an, versuchte es mit anderen, unverfänglicheren Worten: »Ich komme hier her zurück, wenn ich alles erledigt habe.«
Das unausgesprochene: »Ich hoffe, du bist dann auch hier«, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Dazu sagte Desiderius nichts, spürte noch zu sehr die Enttäuschung, die Verwirrung, die Rahff nicht lösen konnte. Er hatte sich auch keine Mühe gegeben, außer in jener einen Nacht, als er sich zu ihm gelegt hatte. Doch eine leise Stimme in Desiderius` Kopf machte diese liebliche Erinnerung zunichte. Denn er glaubte, Rahff habe das nur getan, damit Desiderius ihm die Hilfe nicht verweigerte.
Er wusste nicht, was er tun sollte, wohin er gehen sollte. Aber in einem war er sich sicher: Er wollte und konnte sich nicht auf einen anderen Mann verlassen. In keiner Weise. Sei seine Sehnsucht nach dessen Berührung noch so groß.
»Lass uns gehen«, sagte er zu Rahff und führte ihn zur Stadt.
*~*~*~*
»Lasst mich durch! Er ist verletzt! Bitte, lasst mich durch!«
Rahff hatte den Arm um Desiderius` Nacken geschlungen und versuchte dabei, möglichst schlaff zu wirken. Sein Wollumhang verdeckte sein Gesicht, das Schild und die Axt hatte er wohlweißlich bei Schnee zurückgelassen, nur das Langschwert versteckte er unter dem schwarzen Umhang, da es ihn als den verraten könnte, der er war.
»Bitte, lasst mich durch!« Desiderius` Sorge klang aufrichtig, er wäre ein guter Schausteller geworden.
Rahff bekam nicht mit, was um ihn herum geschah, ganz in seiner Rolle als Halbtoter, ließ er sich mehr schlecht als recht von Desiderius über die braune Straße zum Stadttor zerren, seine Stiefel hinterließen Schleifspuren auf dem von der Sommersonne staubigen Grund. Sein Kopf hing herab, er sah Stiefelspitzen und nackte Zehen in Sandalen, die aus dem Weg sprangen.
»Halt!« Der herrische Tonfall einer Torwache. »Was geht hier vor sich?«
»Ich brauche umgehend einen Heiler!« Desiderius korrigierte mit einem Ruck Rahffs schlaffen Körper, damit er ihm nicht entglitt. Rahff spannte sich unmerklich etwas an, damit der Vagabund unter seinem Gewicht nicht einbrach. Doch er unterschätzte Desiderius` Stärke, er hielt ihn nämlich beinahe mühelos.
Rahff musste sich einen Narren schimpfen, weil er ausgerechnet in diesem Moment die Hitze in seinen Lenden spürte, die die Nähe zu Desiderius verursachte. Dass er dessen angespannte Muskulatur deutlich an seiner Seite spüren konnte, machte es nicht besser. Unversehens erinnerte er sich an den herben Geschmack seiner Haut, an das Geräusch, das er machte, wenn er leise einatmete, sobald Rahffs Lippen seinen Nacken berührten.
Und genau deshalb hätte er sich von ihm ferner halten sollen, weil er gewusst hatte, dass er nur noch daran denken konnte, ihn zu berühren. Rahff konnte sich noch nie gut beherrschen, vor allem nicht seine Gedanken. Er war schließlich froh, dass er nicht bei Desiderius gelegen hatte, dass es nicht zu mehr gekommen war, sonst würde er alles andere als schlaff auf ihm hängen können.
Er musste sich konzentrieren und eine Rolle spielen, doch seinem Herz war all das gleich, es sehnte sich nur danach, dass seine Hand einen Weg unter Desiderius` Harnisch fand. Oder in seine Hose.
Reiß dich mal zusammen!
»Bitte«, flehte Desiderius, »er braucht umgehend einen Heiler. Lasst uns durch!«
»Ihr könnt euch nicht einfach vordrängeln!«, wandte eine andere, jüngere Stimme ein. Ebenfalls ein Torwächter, der nun hinzukam.
»Er stirbt!«, fauchte Desiderius in Manier eines sorgenvollen Verwandten. »Bitte, er ist mein Bruder. Wir wurden auf der Straße überfallen.« Er deutete hinter sich, mitten ins Nirgendwo, Rahff konnte die Bewegung spüren. »Sie haben den Karren abgebrannt, unser Silber genommen und die Pferde gestohlen. Ich bitte Euch, ich habe ihn hier hergeschleppt, den ganzen Weg. Lasst mich ihn zum Heiler bringen, bevor er stirbt. Er ist alles was mir bleibt.«
Rahff zuckte innerlich zusammen. Desiderius sprach derart verzweifelt, dass er beinahe vergessen hätte, dass die Worte nur ein Schauspiel waren. Enttäuschung senkte sich auf sein Herz. Es wäre schön gewesen, hätte sich jemand tatsächlich um ihn gesorgt. Aber abgesehen davon, dass mancher Bauer aus dem Gebirge ihn für einen recht respektablen Lord hielt, gab es in Rahffs Leben niemanden, der sich je wirklich etwas aus ihm gemacht hätte. Niemand, der ihn derart mochte oder gar liebte, dass er in Tränen ausbrechen würde, sollte er sterben.
Nun, vielleicht Ehvon. Aber Ehvon … das war eine andere, sehr alte Geschichte, die ihren Zweck schon lange überdauert hatte.
Eine kurze Pause entstand, hinter ihnen wurde gemurmelt. »Bei den Göttern, wie schrecklich!« und »In was für Zeiten leben wir nur …«. Ein Herr bemerkte: »Wir kamen ebenfalls von der Königstraße, es hätte auch uns erwischen können!«
»Ich muss Euch durchsuchen«, wandte der Wächter ein und trat näher.
Rahff spannte sich an. Wenn sie durchsucht wurden, würde er die Kapuze abziehen müssen, dann könnten alle Umstehenden sein Gesicht sehen und ihn erkennen. Darauf warteten Attentäter nur, die überall lauern könnten. Deshalb spielten sie diese Phrase doch überhaupt, damit Rahff sein Gesicht nicht lüften musste.
»Bei den Göttern, was soll er schon anrichten, lasst den armen Mann durch!«, rief jemand aus der hinteren Menge. »Bevor ihr ihn auf einem Karren wegschaffen müsst.«
Читать дальше