Manchmal benötigte es keiner Worte.
Ein Blick hier, ein Nicken dort, schon wechselten sie die Richtung. Ein Lächeln, eine hochgezogene Augenbraue. Ein Fingerzeig. Mehr brauchte es nicht, um zu kommunizieren.
Es war nicht nötig, mit Männern zu reden, die vom gleichen Schlag waren. Männer, die sich auf einer tieferen Ebene besser verstanden als es die eigenen Mütter getan hätten.
Desiderius sprach ohnehin nicht gerne. Manchmal fragte er Rahff aus Neugierde über dessen Leben aus, schwieg aber viel über seine eigene Vergangenheit. Er mochte es nicht, über sich zu reden, Gespräche fielen ihm schwer. Er wollte nichts Falsches tun, nichts Falsches äußern und sich wohlmöglich lächerlich machen.
Rahff akzeptierte das Schweigen, schien es sogar zu genießen. Er bedrängte ihn nie, er nahm es hin, wenn Desiderius gewisse Fragen über seine Vergangenheit nicht beantworten wollte.
»Ein Mann muss selbst wissen, wann und wem er etwas erzählen möchte. Wir kennen uns nicht gut genug, um dir deine Geheimnisse entlocken zu wollen«, hatte Rahff erklärt, als Desiderius eines Tages unsicher fragte, ob er denn nicht wütend auf ihn sei, weil er die Fragen über seinen Vater ausschwieg.
Desiderius hatte nicht lügen wollen, weshalb er jedem Nachhaken darüber mit stummer Miene begegnete. Es war besser, wenn Rahff nicht erfuhr, wer Desiderius` leiblicher Vater war.
»Wenn du es erzählen willst, dann wirst du es schon tun«, meinte Rahff nachsichtig dazu, »ich würde mich freuen, mehr über dich zu erfahren, aber die Vergangenheit ist nicht das, was dich heute ausmacht. Solang du mir dein wahres Gesicht zeigst, akzeptiere ich deine Geheimnisse. Ich meine … wir wollen ja keine Bücher über einander schreiben. Belassen wir es bei Oberflächlichkeiten.«
Manchmal wirkte Rahff so klug und so erfahren, dass Desiderius nicht wusste, ob er sich darüber ärgerte oder ihn bewunderte. Letzteres überwog schlussendlich.
Es gab Nächte, da sprachen sie kein Wort, während sie das Essen einnahmen. Aber sie sahen sich an, immer wieder, wie magisch angezogen. Desiderius nickte dann knapp, Rahff lächelte verschmitzt.
Gespräche ohne jegliche Worte. Desiderius liebte es. Zweisamkeit ohne Erwartungen. Es war schlichtweg eine stille Akzeptanz, die sie einander schenkten. Wie die Blumen, die auf dem Baum wuchsen und sich von ihm nährten.
Seltsamerweise hatte Desiderius immer angenommen, allein würde er besser zurechtkommen. Vielleicht war dem wirklich so, doch er wagte allmählich zu glauben, dass ihm der Gigant ein wenig fehlen würde. Zumindest sein Lächeln, sein »Guten Morgen«, sein Gesang.
Vor allem sein Gesang und die bewegenden Lieder aus seiner Heimat, die von Rache, Liebe oder Brüderlichkeit erzählten.
Brüderlichkeit? Desiderius hatte davon gehört, es aber nie für jemanden empfunden. Als er Rahff einmal nach den Männern fragte, die ihn verrieten, gebrauchte er dieses Wort.
»Sie waren wie meine Brüder, meine Seele! Natürlich schmerzt mich ihr Verlust. Doch sie haben eine Entscheidung getroffen. Ich bedaure ihren Tod nicht, ich bedaure nur, dass ich es nicht kommen sah.«
Das ist es, was Desiderius anfing an Rahff so sehr zu mögen. Dass er aus einer völlig anderen Welt stammte. Eine Welt, die ihm vielleicht nicht verschlossen worden wäre, wäre er kein Bastard. Das, und die Tatsache, dass Rahff ein echter Mann war. Kein Halsabschneider, kein Feigling. Ein wahrer Krieger, mutig und erfahren. Jemand, zu dem man leicht aufblicken konnte.
Brüder … das hätte ihm gefallen. Nichtblutsverwandte Gefährten, die ihm das gaben, was er nie gehabt hatte. Eine Familie, Schutz, Zugehörigkeit. Dinge, die er nicht zugeben würde, sie zu brauchen, die er jedoch denjenigen neidisch missgönnte, die sie besaßen.
Waren er und Rahff Brüder? Er hatte diese Frage gestellt, unschuldig wie ein Kind. Er hasste sich für diese Unsicherheit. Doch Rahff hatte wie immer nachsichtig gelächelt.
»Nein«, war jedoch seine Antwort gewesen, »wir beide könnten nie Brüder sein.«
Zwar hatten Rahffs Augen dabei warm gefunkelt, doch Desiderius verstand nicht, warum. Er spürte nur Enttäuschung seit jenem Abend. Rahff würde sicher niemals einen Dieb seinen Bruder nennen.
Seitdem erdrückte ihn das Schweigen, doch er ließ es sich nicht anmerken.
Er wollte fragen: »Darf ich dich wirklich besuchen, wenn all das vorbei ist?« Doch er wagte es nicht. Sie kannten sich doch im Grunde gar nicht.
Doch j näher sie der Stadt kamen, je drängender wurde diese Frage. Oder besser gesagt, drängte es ihn nach einer Antwort darauf. Jedoch fürchtete er sich davor, sich bloß zu stellen.
Er kam sich wie ein Narr vor. Ein naiver Narr, der es besser wissen müsste, sich aber trotzdem Hoffnung machte.
Ob Rahff sein Versprechen halten und ihn einladen würde?
Desiderius glaubte nicht daran, er nahm von Menschen zunächst einmal immer nur das Schlechteste an.
Er schüttelte die schlechten Gedanken ab, da er nicht in Selbstmitleid baden wollte. Immerhin war er stets allein zurechtgekommen, es würde ihm auch nach der Begegnung mit Rahff gut gehen. Doch die Erinnerung an den Giganten würde ihn begleiten. Zumindest sein Gesang. Auch wenn ihre Kameradschaft noch so flüchtig gewesen war. Es gab Menschen, die gingen einem vom ersten Moment an unter die Haut. So war es mit Rahff.
Desiderius klopfte seinem Grauen auf den kräftigen Hals. »Lass es dir schmecken«, sagte er lobend, »du hast es dir verdient.«
Er hatte den Pferden hohe Gräser gepflückt. Die Hengste hielten sich nicht zurück, sich die Bäuche vollzuschlagen. Schnee stakste frei durch die Bäume, blieb wie gewohnt in der Nähe.
Das Lager war verlassen, als Desiderius sich zum Feuer umdrehte. Verwundert blickte er sich um. Der Wald war ein Gemisch aus Laub- und Tannenbäumen. Dort, wo sie lagerten, übersäten braune Nadeln den Boden. Der Untergrund war weich, es gab kaum Gestein, ein idealer Ort, um zu schlafen. Doch Tannen hatten den Ruf, eine düstere Grundstimmung zu schaffen, und diesem wurden sie auch gerecht. Es war finster um sie herum, die Sonne drang nicht durch die Äste der Bäume, der Waldboden war braun, das Gestrüpp erschien knochig und kahl. Keine immergrünen Büsche, keine ausladenden, majestätischen Baumkronen.
Etwas Raschelte hinter Desiderius im Unterholz. Er fuhr herum, doch es war nur Nebelkralle, der einer Maus nachjagte. Der Nager entwischte den kleinen Tatzen.
Als der Puma bemerkte, dass er beobachtet wurde, setzte er sich auf seinen Hintern und reckte stolz das Kinn, eines Löwen gleich. Es schien, als hätte er die Maus entkommen lassen. Aus reiner Hochnäsigkeit.
»Wo ist der alte Mann?«, fragte Desiderius.
Der Kater antwortete nicht, leckte mit rauer Zunge genüsslich den Rücken seiner Tatze, als habe er ihn nicht gehört.
Desiderius kam sich dämlich vor. So weit war es also schon mit ihm. Er sprach mit Tieren! Es wurde höchste Zeit, von Rahff los zu kommen.
Warum fiel es ihm so schwer, sich vorzustellen, ohne ihn weiter zu ziehen?
Und wo sollte er überhaupt hin gehen? Er war noch immer auf der Flucht vor Markesh und Zeck. Die Vorstellung, bald wieder allein für seine Sicherheit verantwortlich sein zu müssen, behagte ihm nicht. In den letzten Tagen hatte er sich zu sehr auf Rahff verlassen, er war faul geworden.
Vielleicht war es besser, dass sich ihre Wege bald trennen würden. Ganz gewiss sogar. Bevor sich diese bereits aufgekommene Vertrautheit noch verstärkte.
Es war schließlich immer ein Nachteil, wenn man sich auf andere verlassen musste.
Desiderius ging hinunter zum Bach. Der einzige Ort, an dem er Rahff vermutete. Nebelkralle folgte ihm. Ein schmaler Pfad führte von der geraden Fläche ihres Lagers einen Hang hinab. Die Baumstämme wuchsen hier schief aus dem Boden, um gerade gen Himmel zu wachsen. Keine Rinde glich der andern, die Bäume standen weit auseinander, trotzdem ließen sie die Abendsonne nicht durch.
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