Rahff war zerrissen, zwischen Pflichtgefühl und Verlockung.
Jedoch brauchte er Desiderius` Hilfe. Und er wagte nicht, ihm näher als nötig zu kommen, da er sich ausmalte, dass der Bursche danach doch noch das Weite suchte. So unerfahren wie er war, könnten ihm die Avancen eines alten Mannes am Ende doch noch in die Flucht treiben.
Seit einem Tag ritten sie wieder Fluss aufwärts. Das Wasser fraß sich durch eine Senke. Sie ritten oberhalb der Fluten einen breiten, verwilderten Pfad entlang, mitten durch den Wald. Es war dunkel unter dem dichten Blätterdach. Nebelkralle schlief in Rahffs Armen, der Kater bekam nichts von dem Ritt mit. Erde trottete viel beladen und müde hinter Schnee her.
Die Strömung des Flusses hatte etwas nachgelassen. Nicht genug, um vom Reißen in ein sanftes Plätschern zu wechseln, wie es in den kommenden Sommermonaten der Fall sein würde, aber dennoch ruhig genug, damit ihnen das leisere Rauschen nicht entging. Zwei Nächte hatten sie am Fluss gelagert und geplant. Hatten ihre Kenntnisse über die Stadt und die Ebenen ausgetauscht, keiner von ihnen war oft dort gewesen. Sie sprachen darüber, wo die vielbefahrenen Straßen lagen, wo sich gerne Räuber aufhielten, wo Rahffs Onkel Späher und Attentäter am klügsten positioniert haben könnte. Haben geplant und geplant, sich Wege und die rechte Zeit zurechtgelegt. Doch auch wenn ihre Pläne sie beruhigten, ihnen Sicherheit vermittelten, so war es letztlich doch ein Glücksspiel, ob es ihnen gelänge, ohne großen Ärger nach Dargard und in die Stadt hinein zu kommen.
Ob Rahff überhaupt vom König empfangen wurde?
Gewiss, der Bote seiner Majestät hatte es ihm zugesichert! Jetzt hing Rahffs gesamte Zukunft, sein ganzer Erfolg von Desiderius` kriminellen Fähigkeiten ab.
Und über all dem hing der Drang, ihn zu berühren. Sei es nur die Wange, dachte Rahff, als er einen Blick auf den Reiter neben sich warf. Nur die Wange. Vielleicht auch die schmalen aber schön geschwungenen Lippen, er wollte sie mit dem Daumen nachfahren, mit der Zunge ...
Oder diese spitze Nase mit der eigenen reiben. Das schwarze Haar der unantastbaren Schönheit streicheln. Sich auf oder hinter ihn schmiegen, den Duft seiner Haut einatmen…
Er hätte dafür ohne zu zögern seine rechte Hand gegeben. Und den ganzen Arm für deutlich mehr. Einen Kuss? Undenkbar! So wertvoll, dass er sich ein Bein dafür abgehackt hätte.
Läge es in seiner Macht, die Zeit zurückzudrehen, hätte er diesen sündhaft zynischen Mund unter Wasser mit der Zunge erkundet. Doch in jenem Moment war ihm nur Desiderius` Leben wichtig gewesen, erst hinterher, am nächsten Morgen, war er sich bewusst geworden, wie wunderbar nahe diese Geste einem Kuss gekommen war.
Vielleicht sollte er ihn noch einmal in das Wasser schubsen und ihn mit der Luft aus seinen eigenen Lungen beatmen. Er hatte nie etwas Schöneres mit seinem Mund angestellt, nie etwas Klügeres getan.
»Noch fünf Tage in diese Richtung«, sagte Desiderius, dem der verträumte Blick nicht entgangen sein konnte, »dann können wir den Fluss über eine Brücke wieder überqueren.« Er wich geflissentlich Rahffs Lächeln aus. »Nun ja, sofern sie noch existiert. Es ist nur eine morsche, dürre Holzbrücke. Die Flut könnte sie abgerissen haben.«
»Du hast ein Talent«, sagte Rahff amüsiert dazu. Desiderius fuhr verwundert zu ihm herum. »Du sprichst und sprichst, mit kühler Selbstsicherheit, doch ohne das zu sagen, was du eigentlich sagen willst.«
Der Vagabund runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht-«
»…was du meinst«, äffte Rahff ihn nach und lachte anschließend auf. Bei den Worten handelte es sich um Desiderius´ Standartsatz in den letzten Tagen, wenn Rahff sein Lächeln ansprach oder seinen langen, intensiven Blick. Seine Verträumtheit, die ihm besser zu Gesicht stand als jeder Spott, hinter dem er sich gern versteckte.
Als ihm der Gedanke kam, wurde seine Miene eindringlich. »Du solltest dich nicht immer wie ein Narr aufspielen.«
Desiderius blinzelte vollkommen irritiert. »Wie bitte? Das habe ich doch gar-«
»Ich mein ja nur«, unterbrach Rahff ihn mit einem warmen Blick voller Verständnis, »du bist doch gescheit. Zumindest warst du es in den letzten Tagen.«
Der Dieb verengte warnend die Augen.
Rahff ignorierte es, er wurde tadelnd. »Männer werden dich niemals ernst nehmen, wenn du nur spottest und alles lächerlich machst.«
Das brachte Desiderius zum Nachdenken. Er blickte auf Fels dunkelgraue Mähne, die im sanftem Wind federleicht wehte. Sein Geständnis kam gemurmelt: »Manchmal ist es leichter, aus allem einen Scherz zu machen, als sich seine Gefühle einzugestehen.«
»Es zeugt zu sehr von Unsicherheit«, warnte Rahff ihn. »Du willst doch nicht, dass sie das denken.«
Daraufhin herrschte brütendes Schweigen Seiten des Diebes.
Diese Stille war ein überlautes Eingeständnis. Rahff hatte es sich gedacht, er war sich ziemlich sicher gewesen, das Desiderius insgeheim ein unsicherer Junge war. Es überraschte ihn nicht, immerhin führte Desiderius ein einsames Leben ohne Zukunft. Wäre da nicht jeder verunsichert?
Rahff streckte die Hand aus, wollte Desiderius` breite Schulter drücken, fand sich dann jedoch an dessen Arm wieder, über den er beruhigend strich. Die Muskeln darunter waren steinhart, trotz Lederrüstung konnte er ihre Konturen bestens ertasten, und ihre Größe zeugte davon, dass sie noch wachsen würden. Sehr viel sogar. Ein heißes Prickeln fuhr unter seine Haut.
Gequält schloss Desiderius die Augen, schluckte geräuschvoll, als spürte auch er ein Kribbeln. Doch er sagte nichts dazu, wehrte sich nicht.
Leise lachend zog Rahff die Hand zurück und riet ihm: »Sorg dafür, dass deine Feinde dich ernst nehmen.«
Skeptisch sah der Bursche Rahff wieder an.
»Glaub mir, das ist einfacher, als du denkst.«
»Für jemanden, der so groß ist bestimmt!« Desiderius musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ein eiserner und ungebrochener Wille verunsichern deine Gegner, nicht deine Größe«, hielt er mit einer vor Erfahrung triefenden und absolut überheblichen Stimme dagegen. »Sei kein Narr, sei ein König. Immer, überall, auch ohne Land und ohne Krone, und die Leute werden dir mit Respekt begegnen.«
»Wer bist du, meine Mutter?«, fauchte Desiderius. Er begegnete Ratschlägen stets mit Ablehnung und Wut. Rahff hielt ihn nicht umsonst für äußerst stolz.
»Und außerdem…«, fuhr Desiderius etwas ruhig fort, wandte jedoch den Blick in den Fluss, der neben ihnen entlang rauschte, »…was, wenn sie mir keinen Respekt entgegenbringen? Zeck hätte mich auch geschlagen, hätte ich geschwiegen und ihn grimmig angestarrt. So nahm ich ihm wenigstens die Genugtuung, mich nicht zu brechen.«
»Ertrage Schmerz schweigend, dann kannst du nicht gebrochen werden.« Rahff zuckte mit den Schultern. »Du hast es nicht nötig, dich hinter Spott zu verstecken.« Mit einem frechen Grinsen zwinkerte er Desiderius zu. »Ich meine es nur gut, manchmal mag es ein Vorteil sein, den Feind zu verspotten, doch manchmal ist es schlichtweg klüger, zu schweigen. Mehr will ich gar nicht sagen.«
Nachdenklich starrte der Dieb vor sich hin. »Hm.«
»Schließlich ist es manchmal auch äußerst unklug, einen Gegner noch weiter gegen sich aufzubringen, vor allem wenn man ihm ausgeliefert ist.« Wissend sah Rahff Desiderius an, während er blind die Zügel wieder deutlich anzog, bevor Schnee glaubte, er dürfte gemütlich am Wegrand grasen. »Lass sie deine Gefühle nicht sehen, lass sie glauben, du hättest kein Herz, dann können sie dir auch nicht wehtun, dir weder deinen Stolz, deine Ehre noch dein Gesicht nehmen.«
»Machst du das?«, foppte der Dieb. »Lässt die Leute lediglich glauben, du wärest stärker als alle anderen?«
Rahff lachte arrogant. »Ha! Nein, ich brauche niemanden etwas vorzuspielen, mich sollte man wirklich fürchten.«
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