Doch die Aussicht auf einen Freund, der einem in der Not die Tür öffnet, oder wenn man sich doch einmal einsam fühlte … das war in diesem Moment das mit Abstand Wertvollste, das Desiderius je besessen hatte.
Seltsamer Weise glaubte er Rahff sogar, obwohl er es nicht wollte. Er kämpfte dagegen an, jemanden zu vertrauen, wusste er doch, dass es so etwas wie Freundschaft nicht gab.
Oder doch? War Rahff einfach anders als die Menschen, die Desiderius bisher getroffen hatte?
Eines war gewiss, es würde ihm schwerfallen, Rahff einfach allein weiter ziehen zu lassen. Auch wenn ihm bewusst war, dass er gar keine andere Wahl hatte.
Er schnaubte über Rahff und rang sich ein freches Schmunzeln ab. »Wir kennen uns doch gar nicht, doch du willst mir vertrauen?«
Rahff zuckte grinsend mit den Schultern. »Du hast mir in der Not einen Becher Wein ausgegeben. Da wo ich herkomme, bedeutet das etwas.«
»Und was?«, hakte Desiderius skeptisch, jedoch nicht minder neugierig nach.
Der Gigant zeigte ein neueres Lächeln. Leicht, geschlossen. Geheimnisvoll. »Du warst derjenige, der mir einen ausgab. Ich denke, du weißt, was es bedeutet.«
»Nein. Keine Ahnung«, hielt Desiderius schnell dagegen.
Dafür hatte Rahff lediglich ein müdes Blinzeln übrig.
Vielleicht, dachte Desiderius, hatte es eine Bedeutung. So wie die Tatsache, dass er dem Giganten das Leben gerettet hatte, obwohl er ihm nie zuvor begegnet war. Möglicherweise hatte im Leben alles irgendeine Bedeutung, gänzlich unbewusst. Denn für gute Taten war er gewiss nicht bekannt. Er senkte den Blick, ehe seine verräterischen Augen seine Gedanken preisgaben. Vielleicht war alles, was er gegenüber Rahff getan und gesagt hatte nur einem egoistischen und gefährlichen Grund entsprungen. Schlichtweg der Tatsache, dass Rahff ein Sehnen in ihm auslöste, das verboten war.
Desiderius schämte sich nicht dafür, das hatte er noch nie, er genoss dieses Gefühl, das Begehren und das Kribbeln in seiner Brust, das Magenziehen, die Wärme in seinen Gliedern. Er grämte sich nicht deswegen, denn niemand konnte es ihm ansehen. Und er genoss es, in diesen verbotenen Gefühlen zu ertrinken, sie zuzulassen und in ihnen zu schwelgen. In Gedanken stets die Körper derer Männer, die seinen Blick magisch anzogen. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, sie anzufassen, ihre Muskeln waren so etwas wie eine persönliche Religion. Unantastbar, aber anbetungswürdig. Er sah sie gerne an, spürte das heiße Prickeln auf seiner Haut, und zog sich zurück, um stundenlang daran zu denken, wie sie sich anspannten und unter der Haut bewegten; um das Gefühl des Sehnens auszukosten. Deshalb mochte er Rahffs Nähe, Rahffs Blick, sogar Rahffs Duft. All das verursachte das stärkste aller Gefühle, das er je verspürt hatte. Sehnsucht.
»Ich muss mal.« Er stand eilig auf, ohne Rahff eines Blickes zu würdigen, und verschwand durch einen dichten Lorbeerbusch in den Wald, wo er blieb, bis das Ziehen in seinem Unterleib abklang und er ohne auffällige Beule zurück zum Lager gehen konnte.
Als er wieder zurückkam, war die Sonne bereits untergegangen, sodass die rotglühenden Kohlen des Feuers das graue Licht der Dämmerung aus ihrem Lager vertrieb.
Rahff lag auf dem Rücken auf seinen Decken, die honigbraunen Augen geschlossen. Auf seiner Brust lag erschöpft und voll gefressen der kleine Nebelkralle und schnurrte schläfrig. Rahff strich mit einer Pranke durch sein sandfarbenes Fell, die andere Hand hielt den kleinen Fellpopo fest. Der Gigant summte leise, dunkel und kehlig. Ein wundervoller Ton, der Desiderius` empfindlichen Luzianer-Gehör schmeichelte und das Sehnen in seiner Brust wieder anschwellen ließ.
Rahff war … er hatte einfach … er besaß schlicht eine Anziehungskraft, der sich Desiderius nicht entziehen konnte.
Desiderius übernahm die erste Wache, das hatten sie bereits in der ersten Nacht abgesprochen. Wenn er allein in den Wäldern unterwegs war, schlief er nie länger als eins, zwei Stunden, und stets mit einem offenen Auge. Das machte ihm für gewöhnlich nichts aus, er kannte es nicht anders. Doch wenn er Wache halten musste, dann bestand er stets auf die erste, damit er schlafen konnte, bevor der Tag anbrach. Es gab nichts ermüdenderes für ihn, als zuzusehen, wie die Sonne langsam am Himmel emporkroch und es wieder hell wurde.
Desiderius schlief gerne in den Tag hinein. Er stand auch gerne früh auf, lief durch den Wald, jagte, sammelte Beeren, doch er liebte es, die Freiheit zu haben, sich am Nachmittag auf einen breiten Ast zu legen oder an einem Bach ins weiche Gras zu fallen, um in den frühen Abend hinein zu dösen.
Keine Verpflichtungen, keine Verantwortung. Das war es, was er liebte. Die Freiheit, hingehen zu können, wohin er wollte, sein eigener Herr zu sein.
Doch Markesh wollte ihm Fesseln anlegen, genau wie Desiderius` leiblicher Vater, der ihn ins Kloster zum Lernen geschickt hatte. Alle wollten ihn festhalten, ihn formen, dabei war er wie ein Diamant und schwer zu schleifen. Desiderius musste sich davon befreien, musste die Fesseln lösen. Deshalb hatte er die goldenen Rubinketten gestohlen und verkauft. Er brauchte das Silber, um ohne Markesh zu überleben. Zudem standen sie ihm zu, immerhin war sein Anteil an der Beute seit Jahren zurückgehalten worden.
Desiderius setzte sich am Rande des Lagers an einen Baum und lehnte den Rücken an den rissigen Stamm. Außerhalb des Lichtscheins der Glut, würden mögliche Angreifer ihn nicht bemerken. Später würde Desiderius ab und an eine Runde um ihr Lager laufen, alles erkunden und im Blick behalten, wie er es in der Diebesgilde gelernt hatte.
Aber zunächst legte er den Hinterkopf an den Baum und lauschte Rahffs anschwellenden Kehlkopfgesang in der Nacht. Es klang traurig, sehnsüchtig, Desiderius glaubte, Rahffs Heimweh in seinem Gesang zu hören. Und es tat auch ihm weh.
Gewiss würden Räuber auf die Laute aufmerksam werden, doch der Fluss rauschte und Rahffs dunkle Stimme war schlichtweg zu animalisch, um ihn zu unterbrechen. Irgendwo heulte ein Wolf, als wollte er Rahff antworten.
Leise atmete Desiderius durch, zufrieden, entspannt wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Vielleicht sogar wie noch nie. Ein ungewohnter Frieden überkam ihn, wusste er sich doch in Gesellschaft eines Mannes, der ihm zweimal das Leben gerettet hatte, obwohl er es nicht hätte tun müssen. Ein Mann, der ihn zu verstehen schien, solange er dessen einsamen Gesang lauschte.
Er fühlte sich beschützt, fühlte sich verstanden. Und er genoss es.
»Ich verstehe die Moral aus dem Gebirge nicht. Du redest, als gefiele dir das Töten, aber die Diebe hast du nur verprügelt.«
Sie ritten seit fünf Tagen am Fluss entlang, als Desiderius neugierig wurde.
Rahff lächelte ihn an. »Moral wird immer anders ausgelegt. Im Gebirge greifen wir schnell zur Gewalt, das stimmt, aber ich töte nicht jedes Mal, wenn es sich anbietet, nur weil ich es mag, mich überlegen zu fühlen. Gerade da ich ohnehin viele Feinde habe, wollte ich mir nicht Krähenfratzes Rache zuziehen. Aber sei versichert, ich hätte sie für dich getötet, hätten sie mir keine andere Wahl gelassen.« Er schenkte dem Vagabunden einen versonnenen Blick.
Dieser schien dagegen gefeit, er drehte geflissentlich den Kopf in eine andere Richtung. »Hm. Du bist schwer einzuschätzen.«
Rahff wurde melancholisch. »Mein Onkel hat das auch mal zu mir gesagt. Vielleicht ist etwas Wahres daran. Ich handle nach Gefühl, manchmal überkommt mich Wut, dann macht mir das Töten durchaus eine gewisse Freude. Wer triumphiert nicht gern über seinen Feind? Aber in meinen hellen Momenten versuche ich, klüger zu handeln. Ich kann schließlich nicht jeden Mann zum Duell auffordern, der mich verärgert. Ich bin … ich war Lord, ich musste vorausschauend handeln.«
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