In Gedanken versunken ging er weiter als beabsichtigt. Er blieb stehen und drehte sich um, der Baum, aus dessen Stamm ein weiterer Baum steil nach oben wuchs, war noch in Sichtweite. Desiderius suchte sich den nächsten Wegpunkt, ehe er weiter ging.
Er entdeckte einen Kaninchenbau. Für einen Moment hockte er sich ins Unterholz und beobachtete die Tiere lächelnd. Die Jungen waren schon groß, ihr flauschiges Kinderfell war einem seidenen Pelz im satten Graubraun gewichen. Sie spürten, dass sie beobachtet wurden, und Desiderius ging weiter, um sie nicht zu stören.
Sie wären leichte Beute gewesen, gewiss, aber er konnte sich noch immer nicht damit anfreunden, sie zu töten. Nicht nachdem wegen ihm eine ganze Familie ausgerottet wurde, nur weil er sie Handzahm gefüttert hatte. Nun ja, wenigstens die Mönche hatten sich den Bauch vollschlagen können. Sie nannten es den Willen der Götter, das Vertrauen zutraulicher Nager zu missbrauchen, um sie ohne Mühe zu schlachten und zu essen.
Desiderius sah noch heute das Unglauben in ihren Knopfaugen, als der Mönch sie an den Ohren packte und in die Luft riss. Diese Verständnislosigkeit, wie ihnen jemand das antun konnte, warum sie plötzlich nicht mehr gefüttert und gestreichelt wurden. Warum sie Schmerzen spürten…
Er schüttelte den Kopf und damit die Hilflosigkeit des Jungen, der er einst gewesen war, ab. Solange er im Wald umherschlich, würde keinem Kaninchen Leid widerfahren.
Doch er sollte finden, wonach er suchte.
Während er sich leise ins Unterholz duckte, zog er einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn in den Bogen. Markesh hatte ihm das Bogenschießen beigebracht und mittlerweile war er ein ganz passabler Schütze. Zärtlich strich er über die weiße Fiederung, während seine Augen ihr Ziel anvisierten.
Raubtier gegen Raubtier.
»Das war dein letztes Mahl, Freundchen«, flüsterte er. Wobei er gar nicht sprach, er bewegte nur die Lippen und dachte die Worte.
Desiderius hob den Bogen, zielte, atmete tief ein und hielt die Luft an. Es wehte leichter Wind von links, also zielte er etwas versetzt, ehe er die Sehne flirren ließ.
Der Pfeil flog, verfehlte jedoch das Opfer. Alarmiert hob das Tier den Kopf von seiner Beute – einem bereits halb verspeisten Igel – und sprintete nach einem flüchtigen Schreckensmoment los.
Desiderius fluchte, sprang auf und hechtete hinter her. Er versuchte, dem Tier den Weg abzuschneiden. Glücklicherweise leuchtete das rotbraune Fell aus dem Grün des Waldes heraus, sodass er es nicht aus den Augen verlieren konnte. Es lief direkt auf eine kleine beschauliche Waldlichtung und damit in sein Unglück. Desiderius hatte freies Schussfeld und der Wind blies ihm nun in den Rücken. Er blieb stehen und zielte ruhig.
Der Pfeil traf seine Beute, die sich jaulend überschlug.
Desiderius hing sich den Bogen um die Schulter und trat durch das hohe Gras der Lichtung. Der Fuchs lebte noch, röchelte aber. Der Pfeil hatte ihn die Flanke getroffen und wohl das Herz verletzt.
Da war es wieder, dieser Unglaube in den Augen der Tiere.
Es musste jetzt schnell gehen, das Herz musste noch schlagen, sonst würde das Trinken schwerfallen, da das Blut in den Adern stehen bleiben würde.
Desiderius kniete sich neben seine Beute, legte ihm beruhigend die Hand auf den Bauch und sah dem Fuchs ernst in die Augen. Er würde nicht den Blick abwenden, er war nicht feige. Wenn ein Mann schon töten musste, dann hatte er auch die Pflicht, dem Tod bei seiner Arbeit zuzusehen.
Warum Desiderius einen Fuchs schießen, aber kein Kaninchen erlegen konnte, wusste er sich auch nicht recht zu erklären. Aber vermutlich aus dem gleichen Grund weshalb Rahff Fische fangen aber niemals Schnee – oder ein anderes Pferd – essen könnte. So etwas nannte man wohl schlicht eigene Prinzipien, die lediglich im eigenen Herzen einen Sinn ergaben.
Desiderius machte es dem Fuchs nicht schwerer als nötig, das Tier hatte Angst und wollte um sich beißen, doch es war zu schwach, um sich zu wehren. Er riss den Pfeil heraus und senkte den Kopf. Er wählte die Kehle für seinen Biss, da die Halsschlagader am stärksten das Blut pumpte. Beherzt versengte er seine langen Fänge im warmen Fleisch, schmeckte das bittere Fell des Fuchses.
Doch das geriet in Vergessenheit, als das warme Blut über seine Zunge flutete. Es schmeckte metallisch, doch Desiderius stöhnte weniger wegen des Geschmacks, sondern viel mehr wegen der Wirkung, die beinahe augenblicklich einsetzte. Sein gereizter Magen fühlte sich an, als würde er mit warmem Honigwein gefüllt. Das Blut betäubte die Schmerzen und regte gleichzeitig Desiderius` Heilung an, wodurch sein Herz schneller schlug.
Das Tier wehrte sich schon lange nicht mehr, der Herzschlag war versiegt. Er riss die Wunde beherzt auf, damit das Blut besser floss, dabei besudelte er sein Gesicht um den Mund herum mit einem großen Fleck roten Lebenssaftes.
»Das ist ja geradezu faszinierend.«
Erschrocken fuhr er herum. Rahff stand hinter ihm, noch immer halbnackt, jedoch trug er nun Stiefel, und stützte sich auf seinen altertümlichen Speer.
Desiderius schluckte mit schreckgeweiteten Augen. Er hatte nicht gewollt, dass Rahff ihn dabei sah, er wusste nur zu gut, was Menschen davon hielten. Sie schimpften ihn Monster, nannten diese wichtige und für ihn lebensnotwendige Handlung barbarisch.
Er stand auf und drehte Rahff den Rücken zu. »Bist du mir gefolgt?«, fragte er. Leider klang es nicht so wütend, wie er gehofft hatte. Seine Stimme zitterte nervös. Er wollte sich das Blut mit dem Handrücken vom Mund wischen, doch er verschmierte es bloß.
»Nur, damit du dich nicht wieder in Gefahr bringst«, konterte Rahff belustigt. Tatsächlich hatte er Desiderius bereits öfter den Arsch gerettet als anders herum. Und das innerhalb kürzester Zeit.
Willst du nicht deshalb bei ihm bleiben , höhnte sein Unterbewusstsein, um Schutz vor Zeck und Markesh hinter seinem breiten Kreuz zu suchen?
Unsinn, nur Schwächlinge brauchten Schutz, außerdem war er nicht feige! Er kam allein zurecht!
Noch immer versuchte Desiderius, sich das Gesicht zu säubern, weshalb ihm Rahffs Neckerei entging. Er würde es nie zugeben, doch er fürchtete sich vor der Abscheu, die der Silberlöwe vor ihm haben könnte.
»He!« Eine große Hand packte seine Schulter und wollte ihn herumzerren. »Desi…«
»Nenn mich nicht so!«, fauchte Desiderius. Mit einem groben Ruck seiner Schulter entzog er sich Rahffs Berührung und machte einen Schritt nach vorne, um ihm zu entkommen. Dabei wäre er beinahe auf den Fuchs getreten, der tot im hohen Gras lag und darauf wartete, den Krähen als Futter zu dienen.
Der Kreislauf des Lebens, oder besser gesagt, des Sterbens. In der Natur hatte jeder Tod einen Sinn. Warum sollte er sich schämen, seiner Natur nachzukommen? Es lag nun mal in seinem Wesen, die Götter hatten auch ihn erschaffen.
Und doch … er wagte nicht, sich umzudrehen.
»Desi!« Rahff konnte es nicht lassen, ihn so zu nennen. Er legte seine Hand um Desiderius` Arm und drehte ihn zu sich herum.
Lediglich wegen des sanften Drängens, ließ Desiderius sich dazu überreden, sich ihm zuzuwenden. Sollte Rahff doch sehen, was er davon hatte.
Geradezu beschämt schielte er zu Rahff auf, während er sich des langsam trocknenden Blutes auf seinem Gesicht deutlich bewusst war.
»Erstaunlich!« Rahff klang geradezu bewundernd, als er Desiderius` Kinn zwischen zwei Finger nahm und sein Gesicht mit leuchtenden Augen betrachtete. »Die Prellungen gehen langsam zurück, ich kann dir beinahe beim Heilen zusehen!«
Es würde trotzdem noch einige Tage dauern, bis Zecks Schläge nicht mehr sichtbar wären.
»Widert es dich denn gar nicht an?«, flüsterte Desiderius verwundert. Zweifel stand ihm deutlich auf die Miene geschrieben. Unsicherer, ängstlicher Zweifel.
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