Er hörte noch Rahffs erschrockenes Einatmen, dann schlugen die Massen über seinem Kopf zusammen. Das Wasser war eiskalt und tief, er fiel nicht auf den Grund, was ihm Anlass gab, in Panik zu geraten, denn er war über die seichte Stelle hinausgeflogen!
Sein Wollmantel zog ihn nach unten, die Strömung riss ihn mit sich, wie eine Sturmbö ein vertrocknetes Herbstblatt durch die Luft.
Wild mit den Armen fuchtelnd versuchte er, nach oben zu gelangen. Er war schon immer ein guter Schwimmer gewesen, aber bei dieser Strömung war selbst der geübteste Schwimmer verloren. Immerhin gelang es ihm, an die Oberfläche zu kommen und stöhnend Luft zu holen. All das hatte nur den Bruchteil eines Augenblicks gedauert, aber dank seiner Panik und gänzlich ohne Atem war es ihm wie eine Ewigkeit erschienen.
Die Wassermassen rissen ihn mit sich. Er streckte die Arme nach aus dem Fluss ragenden Felsen aus, um sich festzuhalten, dabei brach er sich allerdings beinahe einen Finger. Sein Rücken wurde gegen einen großen Stein geschleudert, seine Rippen sandten einen Schmerz aus, der ihm den Atem stahl. Er wollte schreien, schluckte aber Wasser. Es brannte in seiner Lunge und er musste husten.
Es kam ihm vor, als habe ihn die Strömung bereits abertausende Fuß weit den Fluss abwärts gespült, als er endlich frontal einen Stein zu fassen bekam. Mit aller Kraft, die ihm blieb, legte er die Arme um den runden Schliff. Der Stein war glatt und durch die Nässe glitschig, er besaß etwa die Breite eines ausgewachsenen Mannes. Desiderius verschränkte die Finger und schrie. Was hätte er sonst tun sollen? Er war machtlos. Das Wasser zerrte an seinem Mantel, auch seine schweren Stiefel waren ein gefundenes Fressen für die reißende Strömung. Das Wasser brach sich an dem Stein, an den er sich verzweifelt klammerte, und spritzte ihm ins Gesicht.
Weit konnte er nicht getrieben sein, denn er glaubte, Rahff am Ostufer entlang reiten zu sehen. Desiderius hoffte jedenfalls, dass es nicht nur eine Sinnestäuschung war. Denn lange würde er sich nicht mehr halten können.
Er rief wütend um Hilfe. »Raaaaaaahff!« Dabei schluckte er wieder eine Flut Flusswasser. Als er hustete, verlor er den Halt und wurde erneut von der Strömung mitgerissen, doch die Reise endete abrupt unter Wasser. Es fühlte sich an, als habe sich etwas um seinen linken Fußknöchel geschlungen. Er suchte nach der Oberfläche und glaubte, einen grünen Schimmer an sich vorbei schwimmen zu sehen.
Was war das? Furcht ließ sein Herz erkalten. Alle möglichen Gruselgeschichten über riesige Flussschlangen und der Gleichen kamen ihm in den Sinn. Instinktiv wollte er nach seiner Klinge tasten. Er verlor das Kurzschwert natürlich, die Strömung riss es ihm aus der Hand, noch bevor er es richtig gezogen hatte.
Dabei fiel ihm auf, dass er nicht weitertrieb, irgendetwas hielt ihn fest. Er versuchte, unter Wasser seine Umgebung zu erkennen, doch die vielen Luftblasen um ihn herum störten seine Sicht. Etwas umkreiste ihn. Ein langer, dunkler Schatten. Grünfunkelnde Schuppen. Was auch immer sich um sein Gelenk geschlossen hatte, es drückte immer fester zu, sodass zu befürchten stand, dass ihn der Druck den Knochen brechen würde.
Etwas packte seine Schulter, und Desiderius fuhr instinktiv herum, zum Angriff bereit. Er erkannte weißen Stoff, der im Wasser flatterte. Ein Arm legte sich um seine Taille und presste ihn an einen großen, warmen Körper. Eisen blitzte im Wasser auf, und auf einmal riss das Wasser nicht mehr an seinem Umhang. Der schwere Wollstoff trieb ohne Desiderius in der Strömung weiter.
Eine beinahe übermenschliche Kraft riss an ihm, versuchte verzweifelt, ihn nach oben zu ziehen. Desiderius schüttelte wild den Kopf, deutete auf seinen Fuß; deutete auf sein Gesicht. Die Atemluft wurde knapp, er bekämpfte den immer stärker werdenden Drang, den Mund zu öffnen. Es wäre sein Todesurteil gewesen, doch seine Lunge sehnte sich so sehr nach der überlebenswichtigen Luft, dass sie zu vergessen schien, dass nur Wasser um sie herum war.
Plötzlich war der Halt wieder verschwunden. Panisch streckte Desiderius die Arme aus und klammerte sich an die Hand, die er zu fassen bekam. Er versuchte, sich an ihr nach oben zu ziehen, jedoch erfolglos.
Der andere Körper kam zurück, verschränkte die Finger mit seiner Hand, die andere spürte Desiderius im Nacken. Ein Schatten glitt auf sein Gesicht zu, etwas Weiches, Warmes berührte seine Lippen, drückte sich darauf und spaltete sie. Luft drang in seinen Mund, wurde ihm durch die Lippen geblasen. Und er saugte sie gierig auf. Um genug einzuatmen, krallte er sich in den langen, dunklen Strähnen seines Retters fest und atmete tief die Luft aus dessen Lungen ein.
Seinen ersten Kuss hatte er sich anders vorgestellt. Beziehungsweise war ihm diesbezüglich nie ein Gedanke gekommen, da ihm derlei Dinge stets unwichtig schienen. Ein Kuss, für solchen Unsinn hatte er keine Zeit, er musste zusehen, wie er überlebte. Aber wenn er darüber nachgedacht hätte, dann wäre ihm gewiss nicht in den Sinn gekommen, dass dieser erste Kuss ihm das Leben retten würde.
Als sich ihre Lippen trennten, fühlte er trotz der gefährlichen Situation tatsächlich Bedauern.
Der große Körper tauchte ab, kurz darauf spürte Desiderius, dass sein Fuß befreit war. Die Wassermassen wollten ihn wieder mit sich reißen, aber da wurde er bereits wieder gepackt und an die Oberfläche gezogen. Der lange Schatten mit den grünen Schuppen umkreiste sie noch immer, Desiderius sah ihn, bevor er durch die Oberfläche brach.
»Schlange!«, schrie er Rahff ins Ohr, schluckte dabei wieder Wasser und hustete. Er sollte wirklich lernen, die Klappe zu halten!
Unermüdlich schwamm Rahff auf das Ufer zu. Desiderius wurde an den breiten Körper des Giganten gepresst, Brust an Brust, und schlang ängstlich die Arme um Rahffs Hals, auf dass sein Retter beinahe wieder abgetaucht wäre. Er konnte über Rahffs Schulter blicken und glaubte, das Schuppenkleid der Flussschlange kurz unter der Wasseroberfläche entlanggleiten zu sehen. Sie musste so breit wie der Stamm einer uralten Birke und fast hundert Fuß lang sein! Trotzdem griff sie nicht noch einmal an.
Rahff zerrte ihn an seinem Kragen aus dem Wasser, sobald sie das Ufer erreichten, weil er zum Gehen zu schwach war. Schwer atmend brachen sie im Kies zusammen, keuchten beide.
Desiderius hustete einen Schwall Wasser hervor. Er war nass bis auf die Knochen, hatte seine Klinge und den Umhang verloren. Aber er lebte noch – Dank Rahff.
Als er zu Rahff blickte, der neben ihm unter schweren Atem auf die Beine kam, bemerkte er, dass dieser nur ein weißes Hemd trug, das ihm nass an seinen Muskelbergen klebte, und dass er auch die Stiefel und den Umhang ausgezogen hatte. Er entknotete gerade das Seil, das er um seine Mitte geschlungen hatte und dessen anderes Ende an einem Baum am Ufer festgebunden war.
»Was?« Desiderius rang noch immer nach Atem, als er ebenfalls stolpernd aufstand. Das Gewicht der nassen Kleider zog ihn nach unten. »Ich bin fast ersoffen – und du ziehst dich noch in aller Ruhe aus?«
Rahff sah ihn entgeistert an. Seine nassen Strähnen wirkten nun schwarz, sie klebten ihm im Gesicht, wie das durchnässte Hemd an seiner Brust. »Wäre ich dir naiv nachgesprungen, wären wir jetzt beide tot!«
Da war etwas Wahres dran, trotzdem versetzte es Desiderius wieder in Panik, wenn er sich vorstellte, dass Rahff sich noch in aller Ruhe auszog und sich mit einem Seil absicherte, während er sich verzweifelt an einen Stein geklammert hatte.
»Da …«, er deutete aufgeregt ins Wasser, » … war eine Riesenschlange!«
Rahff schüttelte den Kopf, während er tiefe Atemzüge nahm. Seine mächtige Brust dehnte sich zu einer noch breiteren Fläche aus. Verdammt, sein Körper war ein ganzes Land, das dazu lockte, es zu entdecken und zu erobern. Es für sich zu beanspruchen.
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