»Ich bin ein Jäger!«, klärte Rahff ihn auf, er musste sich ein Lachen verkneifen. »Ich fand Nebelkralle während meiner Flucht. Oder besser gesagt, er fand mich. Er lag zwischen seinen verhungerten Geschwistern, die Mutter war nicht in Sicht, vermutlich fiel sie einem anderen Raubtier zum Opfer. Zwischen ihm und mir besteht eine tiefere Bindung, als sie zwischen Mensch und Mensch je entstehen könnte. Im Geiste sind wir eins, er und ich.«
Zum ersten Mal seit sie sich begegnet waren, starrte Desiderius ihn sprachlos an. Er blinzelte nicht einmal, presste nur die eingerollten Decken an seine Brust. Unruhig wanderten seine jadegrünen Augen zwischen Rahff und Nebelkralle hin und her, als erwartete er jederzeit einen hinterhältigen Angriff. Rahff würde lügen, hätte ihm dieser Anblick nicht gefallen.
»Also keine Sorge, Desi «, neckte er ihn, trat auf ihn zu und drückte mit seiner behandschuhten Hand beruhigend Desiderius´ Schulter. »Mir wird er das Gesicht bestimmt nicht abbeißen. Und solange ich es nicht will, wird er auch dir kein Leid zufügen.«
*~*~*~*
Sie ritten bedächtig durch den sonnengefluteten Wald. Die dichten Baumkronen konnten die Frühlingswinde nicht abhalten, doch durch die saftigen Blätter erstrahlte das Licht um sie herum in einem dunklen Grün. Vögel tanzten durch die Luft, es waren junge Nesthäkchen, die in den Ästen Fangen spielten. Eichhörnchen flohen vor den Hufen der Pferde in die Bäume. Rahff bewunderte die kleinen Nager immer wieder, wenn sie kopfüber an einem Stamm auf und ab huschten.
Als die Sonne an ihrem höchsten Punkt gelangte, erreichten sie schließlich den Östlichen Fluss. Tatsächlich trug der Fluss keinen anderen Namen, in Nohva benannten die Völker Gewässer gerne nach Eigenschaft oder Lage.
Sie ritten dicht neben dem reißenden Fluss her, das Schmelzwasser hatte ihn anschwellen und zu einer tödlichen Gefahr werden lassen. Sie folgten ihm der Strömung entgegen auf der Suche nach einer seichten Stelle, an derer sie den Fluss durchqueren konnten.
Selbst am Ufer war der wolkenlose Himmel nicht zu erkennen, sodass die reißenden, eiskaltblauen Fluten nicht zum Funkeln gebracht wurden. Die Bäume waren hoch genug gewachsen, dass ihre Äste über das breite Flussbett reichten. Als würden sie sich uferüberbrückend die Hände reichen. Gäbe es hier Menschensiedlungen wäre das Flussufer gewiss gerodet gewesen, doch so konnte Rahff sich der wilden Natur erfreuen. Er hatte sich noch nie so sicher gefühlt, wie in jenen Tagen, als der tiefe Wald seinen blickdichten Mantel um ihn legte.
Nebelkralle war die ganze Zeit über munter. Was Rahff doch etwas wunderte. Der Kleine war noch sehr jung und brauchte viel Schlaf, Rahff hatte gerade erst damit aufgehört, ihm vorgekaute Nahrung zu geben, und ihm die Mäusejagd schmackhaft gemacht. Rahff übernahm in allen Bereichen die Rolle des Muttertieres, bis der Puma erwachsen war. Die Aufzucht war anstrengend, gewiss, aber ebenso vom Vorteil. Ihre Verbindung würde stark sein. Lächelnd beobachtete er, wie der Kater geduckt durch das Unterholz streifte und allem auflauerte, dass sich bewegte. Sein Jagdinstinkt erwachte.
Kaum waren sie am Fluss, beobachtete Nebelkralle mit seinen großen Augen neugierig die Fische im Wasser. Schreckte jedoch zurück, wenn ihm kalte Spritzer ins Gesicht flogen, weil er die Tatze nach einem Flussbewohner schlug. Er verstand nicht, wie sein Opfer sich wehren konnte.
»Ich bin noch nie einem Jäger begegnet.«
Rahff grinste. »Oh, er kann also doch noch sprechen!« Er sah sich über die Schulter. Desiderius trottete seit ihrem Aufbruch in Gedanken versunken hinter ihm her. Beziehungsweise, ließ er Fels hinter Schnee hertrotten. »Und ich dachte schon, es hätte dir die Sprache verschlagen!«
Die schwarzhaarige Schönheit verengte ärgerlich die jadegrünen Augen.
»Du siehst etwas grün um die Nase aus«, bemerkte Rahff. Und es war eine wirklich hübsche Nase, markant, aber nicht auffällig, mit einem Buckel eines alten Bruches. Zurzeit noch etwas geschwollen von der gestrigen Prügelei. »Geht es dir nicht gut?«
Desiderius schluckte, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Mir geht es hervorragend!« Doch seine trüben Augen strafte seiner Worte Lüge.
Rahff ließ Schnee zurückfallen, bis er neben Desiderius her reiten konnte. Der Vagabund hing mit hängenden Schultern schlaff im Sattel, sein Körper wankte müde bei jedem Schritt hin und her, wie ein Fähnchen im Sturm.
»Also«, Desiderius wich seinem forschenden Blick aus, »wie kann ich mir das vorstellen? Hast du ihn … gezähmt?« Seine Augen wanderten zum Ufer und beobachteten Nebelkralle, der tapsig neben dem Wasser einem grellgelben Schmetterling nachjagte.
Gezähmt… Rahff verzog missbilligend das Gesicht. Er mochte dieses Wort nicht, wobei Seinesgleichen keinen anderen Begriff verwendeten. Aber es war kein Zähmen, er drängte sich dem Tier nicht auf.
»Nein, gezähmte Tiere werden ihres Instinktes beraubt. Hingegen bleibt Nebelkralle ein wildes Tier«, antwortete er, und Desiderius sah ihn wieder neugierig an. »Es ist spiritueller als das.« Er beobachtete Nebelkralle und spürte die geistige Verbindung zu ihm wie ein festes Seil, das sie miteinander verband. »Ich versprach mich ihm, und er versprach sich mir. Ich kann dir das nicht begreiflich machen, du müsstest es fühlen. Es ist, als sei er in meinem Geist, zu jeder Zeit, und ich in seinem. Ich kann fühlen, was er fühlt, kann mit ihm kommunizieren ohne Worte oder Gesten zu verwenden.«
»Ihr lest also gegenseitig eure Gedanken«, vermutete Desiderius. Seine Stimme klang ein klein wenig nervös dabei, wenn Rahff sich nicht täuschte.
»Nicht gänzlich. So einfach ist es nicht. Wir empfinden, was der andere empfindet, jedoch gänzlich ungewollt.« Rahff schaute Desiderius in die Augen und lächelte nachsichtig. »Es ist keine irdische Verbindung, nichts, was man beeinflussen könnte. Kein Lesen, kein Zuhören. Betrachte ihn einfach als ein Teil von mir, der nicht an meinen Körper gewachsen ist. So wie ich ein Teil von ihm bin, der nicht an ihm festgewachsen ist.«
Anhand der skeptischen Miene konnte Rahff erkennen, dass der Vagabund nicht im Geringsten verstehen konnte, wo von er da sprach. Schade eigentlich.
»Mit anderen Worten«, foppte Desiderius, »als er mir das Gesicht abschleckte, warst eigentlich du es, der mich lecken wollte?«
Rahff musste ob der gewollten Zweideutigkeit leise lachen. Die beiden Männer grinsten sich verschlagen an. Rahff schüttelte den Kopf.
»Ruf dir die tiefste Liebe hervor, die du je empfunden hast, und dann verhundertfache sie«, versuchte Rahff, ihm begreiflich zu machen, »dann hast du immer noch erst ein Viertel der Verbindung gespürt, die ich zu dem Tier spüre, das mich zum Gefährten wählte.«
Desiderius schüttelte den Kopf, als bedaure er Rahff mal wieder zutiefst. »Keine Ahnung. Ich habe nie geliebt.« Kalt erwiderte er Rahffs Blick, der ihn überrascht anblinzelte.
Noch nie? Wirklich noch nie ? Er focht einen harten Kampf mit seinem Herzen aus, um in diesem Moment nicht unpassend froh zu lächeln.
Dann war das Herz des Vagabunden noch frei? Welch erfreuliche Neuigkeit.
Natürlich, alter Mann, als ob ein junger Bursche wie dieser auch nur das geringste Interesse an dir hätte, selbst wenn er Männern zugetan wäre …
»Nun«, Rahff richtete den Blick durch Schnees weiße Ohren nach vorne auf das steinige Ufer, »dann wissen wir jetzt wenigstens warum du so launisch bist. Das würde mich erheblich frustrieren!«
Den Faustschlag gegen seinen Arm spürte er gar nicht, aber es brachte Fels und Schnee zum Tänzeln. Rahff beruhigte seinen Hengst wieder, während Desiderius ihn mit bösen Blicken durchbohrte.
Lachend rieb Rahff sich den Arm. »Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«
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