»Was gesehen?«, fragte Desiderius gelangweilt.
Rahff gab vollkommen ernsthaft zurück: »Die Augen eines Verfluchten. Die Finsternis.«
Desiderius schüttelte von großem Bedauern ergriffen über diesem abergläubigen Narren den Kopf. »Und warum sollte jemand deine Familie verfluchen?«
Rahff senkte traurig den Blick. »Hexenfluch«, hauchte er geradezu beschämt, seine breite Brust erzitterte unter einem tiefen Atemzug. Desiderius konnte die Augen nicht mehr von der Fläche abwenden. Wie es wohl unter dem Harnisch aussehen mochte? Er stellte sich unwillkürlich die schönste Berglandschaft vor, die er je gesehen hatte, mit zwei mächtigen Zwillingsbergen auf denen zwei rosige Knospen schimmerten.
»Es war eine Hexe«, es klang nach einem Schuldeingeständnis. Desiderius runzelte neugierig die Stirn. »Sie wurde als junges Mädchen meinem Vorfahren als Gemahlin übergeben, aus dem Volk der Waldmenschen, niemand wusste von ihren Kräften. Leider war sie nicht in der Lage, meinem Vorfahren Nachkommen zu schenken, jedes Kind kam tot zur Welt. So ließ er die Ehe auflösen und nahm sich eine neue Frau. Die Hexe fühlte sich verschmäht und tötete ihre Rivalin am Tage der Vermählung mit einem Blitz aus ihrer Hand. Daraufhin verurteilte die Kirche sie zum Tode. Auf dem Scheiterhaufen brüllte sie dann den Fluch, auf dass sich alle Liebenden von dem Lord abwanden und er die Einsamkeit spürte, die auch sie verspürte, als er sie verstoßen hatte. Jeder Erstgeborene ist davon betroffen. Sobald der Vater stirbt, geht der Fluch auf den Sohn über. Nur wer wirklich reinen Herzens ist, kann den Fluch besiegen, oder ein Gott müsste das Herz des Verfluchten berühren, um ihn zu heilen. So heißt es.« Er machte eine kurze, bedeutende Pause, ehe er Desiderius begreiflich machte: »Deshalb bleibt mir nicht viel Zeit, wer weiß, wie lange ich noch ich selbst bin? Bis dorthin muss ich die Burg zurückerobert haben! Wer weiß, ob ich es noch kann, wenn der Fluch zuschlägt? Mein Vater wollte jeden seiner Diener in heißem Öl braten. Er sagte, ihre Schreie würden seinen Ohren deutlich mehr schmeicheln als ihr lauter Atem! Er hasste Menschen, dachte nur an Mord und Folter. So … war er früher nicht gewesen. Hätte ich nicht gewusst, dass der Fluch dafür verantwortlich war, hätte ich ihn gehasst.« Rahffs Blick wurde wieder leer. Oder war es gar keine Leere, die in seinen Augen Einzug erhielt, sondern Trauer, die er zu verstecken versuchte? »Ich weiß nicht, ob mir die Burg – ob mir überhaupt noch etwas wichtig ist, wenn der Fluch mich erfasst. Verstehst du? Wer würde meinen Onkel dann noch zur Rechenschaft ziehen?«
Desiderius atmete leise aus. Das war ja alles schön und gut, klang aber trotzdem sehr stark nach einem Ammenmärchen. Die Südländer brauchten ihre magischen Geschichten, allerdings war Desiderius kein dummer Mensch. Er war ein Luzianer! Und sein Volk glaubte an das greifbare, wahrhaftige Böse, das im Wesen entsprang, und nicht durch einen Fluch verursacht wurde. Jeder war fähig, grausame Taten zu vollbringen, dazu war keine Magie von Nöten.
»Hexen mögen über viele magische Fähigkeiten verfügen, aber nicht über Flüche«, versicherte Desiderius dem abergläubischen Menschen. »Die größte Gefahr besteht in ihren Tränken, wenn sie dafür Kinderzungen abschneiden wollen, um einen Liebhaber gefügig zu machen. Aber sie können keine ganze Blutlinie verdammen.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe!« Rahff ließ geknickt die Schultern hängen. Er konnte einem leidtun, wie er da so saß und sich unverstanden, gar lächerlich gemacht fühlte.
»Rahff«, sagte Desiderius, und ihm fiel deutlich auf, dass er den Namen zum ersten Mal aussprach – er mochte den Klang, ganz gleich was er behauptete, er schmeckte dieser einen, wilden Silbe genüsslich nach. »Rahff«, wiederholte er erneut, dieses Mal etwas einfühlsamer, sodass der Gigant ihn neugierig ansah. »Es gibt keine Flüche.«
Rahff wirkte unglücklich, als er das Thema mit den Worten schloss: »Wir werden sehen.«
Als der Morgen graute, trat Rahff die Glut aus. Er hatte die letzte Wache gehalten, da Desiderius auf die erste bestanden hatte. Der Vagabund schlief lieber bis zum Aufbruch, blieb dafür aber gern bis tief in die Nacht hinein wach, um sie zu bewachen. Rahff hatte mit keinem Protest gegen Desiderius` Sturheit ankommen können. Mit dem Burschen zu diskutieren war, als wolle man einen Berg bewegen: sinnlos. Es war ihm schleierhaft, wie sich jemand derart über solch eine Belanglosigkeit aufregen konnte. Ein wahrlich empfindlicher Vagabund, dieser Bursche! Dabei hatte er den Eindruck gehabt, dass Desiderius die Ruhe dringend nötiger gehabt hatte als er.
Und er sollte sich nicht täuschen. Kaum war Desiderius eingeschlafen, hatte Rahff ihn zittern sehen und leise stöhnen hören. Dank der Schmerzen, die ihm sein Gesicht die ganze Zeit über bereiten musste, hatte ihn das Erschöpfungsfieber heimgesucht.
Eine Weile sah Rahff dabei zu, wie das Zittern stärker wurde. Mit aller geistiger Macht wollte er sich davon abhalten, sich um Desiderius zu kümmern. Aus gutem Grund. Er sah ihn schon erschrocken aufwachen und ihn mit wüsten Flüchen von sich schubsen. Trotzdem hatte es ihm das Herz in der Brust zusammengezogen, tatenlos dem Leiden des Burschen zuzusehen, sodass er noch lange vor dem Morgengrauen um die Glut herum gestampft war, seinen Umhang gelöst und das weiche Bärenfell um Desiderius` schlanke Gestalt gelegt hatte. Die Panzerplatten der Schultern hatte er selbstredend abgeschnallt. Als der Vagabund weiterschlief, hatte Rahff es sich sogar erlaubt, dieser schwarzhaarigen, unantastbaren Schönheit flüchtig über den Kopf zu streicheln.
Dieses Haar! Es war pechschwarz! Rahff hatte noch nie solch schwarzes Haar erblickt. Die meisten Haare besaßen einen rötlichbraunen Stich, einen hellen Schimmer, den die Sonne preisgeben konnte. Aber nicht Desiderius. Oh nein. Diese Schönheit hatte wahrhaftig schwarzes Haar, das sich leicht und dunkel schimmernd wie das Federkleid eines Raben im Wind bewegte. Es war faszinierend.
Rahff hatte dem Schlafenden eine Hand auf die Stirn gelegt, bevor er sich dazu hinreißen ließ, sanft mit den Fingern durch die glatten Strähnen zu kämmen. Desiderius war leicht erhitzt, aber nicht beunruhigend heiß. Natürlich war die Geste mehr als die Überprüfung der Körperwärme gewesen, doch davon musste der Schlafende nichts erfahren.
Danach hatte Rahff sich wieder entfernt, aber keine Ruhe mehr gefunden. Stund um Stund tigerte er auf und ab. Konnte weder die Augen von Desiderius` schlafenden Gesicht lassen, noch die Berührung aus seinen Gedanken vertreiben. Seine Hand prickelte, das schwarze Haar hatte sich wie warme Seide angefühlt. Er wusste zu gut, was dieses Drängen in seiner Brust zu bedeuten hatte, weshalb ihn eine unüberwindbare Unruhe erfasste. In solchen Dingen hatte er sich noch nie wirklich beherrschen können. Rahff verlor oft den Kampf gegen seine Empfindungen. Vor allem Wut und Lust konnte er nichts entgegensetzen. Selbst Nebelkralle, der ihm tapfer nacheifern und alles fest im Blick haben wollte, gähnte irgendwann und gab sich geschlagen. Der kleine Kater kroch zu Desiderius auf das Lager, angelockt durch den Geruch, der Rahffs Mantel anhing, und rollte sich neben dem fiebrigen Vagabunden zusammen, schnarchte leise.
Als der Morgen graute, wagte Rahff kaum, die beiden zu wecken. Er wusste nicht, ob er die Hand zurückziehen konnte, wenn er Desiderius an der Schulter wachrüttelte.
Aber sie mussten aufbrechen, durften keine Zeit verlieren. So ging er zu den Pferden und hoffte, genug Lärm zu machen, dass Desiderius von allein erwachte.
Was war eigentlich in ihn gefahren, Desiderius von dem Fluch zu erzählen? Rahff schüttelte den Kopf, als er Erde sattelte. Was hatte er sich davon erhofft? Verständnis? Das hatte er nun davon, außer Spott hatte Desiderius nichts für diese Legende übriggehabt. Rahff wusste ja selbst nicht, wie viel von seiner Geschichte der Wahrheit entsprach, aber eines war gewiss: den Fluch gab es! Er war dabei gewesen, als die Finsternis nach und nach immer mehr Macht über seinen Vater erlangt hatte, der vom liebenden Vater zum brutalen Monster geworden war. Rasch, wie die Flut das Ufer, hatte der Wahnsinn den Verstand eines guten Mannes geraubt. Innerhalb weniger Monate.
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