Mit der für solche Fälle üblichen Verzögerung kam sie im Büro an. Die weitverbreitete Angst hatte das zwangsläufige Chaos aber in erstaunlichen Grenzen gehalten. Sich nur nichts anmerken lassen, schien die Devise zu sein. Natürlich hatten die Verkehrsbetriebe ihre liebe Mühe, organisatorische Normalität sicherzustellen, denn zu viele Menschen wollten auf einmal die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Doch es interessierte letztlich kaum. Im Laufe des Tages hatte die deutsche Gründlichkeit gesiegt und die Dinge liefen ihren gewohnten Gang.
Sonja nahm mit der üblichen Routine ihre Arbeit auf. Das Amt war verwaist, nur die Ameisen taten, was sie zu tun hatten und arbeiteten. Auch hier sorgte der tägliche Terror für gewohnte Abläufe und wie üblich kam kurz, nachdem sie an ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte, die Bürobotin mit einem Berg an Post herein. Auch hier nichts, was auf die Raserei der Nacht hingewiesen hätte. Katharina Blum versah ihre Arbeit, schon seit sie denken konnte. Die beiden hatten sich immer sehr gut verstanden, ein kleiner Schwatz hier und da, die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Katharina war eine kräftig gebaute, blonde Mittfünfzigerin, die sich offensichtlich nicht viel aus ihrem Erscheinungsbild machte. Sie wäre als unauffällig zu bezeichnen gewesen, wäre da nicht ihre Aura, die eine kaum zu beschreibende Wärme ausdrückte. Sie hatte für jeden ein aufmunterndes Wort und einen für eine gebürtige Berlinerin typischen, geradlinigen, intelligenten Witz. Doch außer flackernden, ängstlich und nervös umherblickenden Augen war auch hier nichts von der Vergangenheit übrig geblieben. Wortlos legte Katharina die Post auf den Tisch und schlich sich mit hängenden Schultern genauso wort- und obendrein grußlos aus dem Büro.
Sonja Walter begann, die Post zu öffnen und zu sortieren. Dabei stieß sie auf einen unscheinbaren Briefumschlag, der an sie direkt adressiert war. Einen kurzen Augenblick zögerte sie. Sie bekam im Amt nie Post. Instinktiv ließ sie den Umschlag in ihrer Handtasche verschwinden, widmete sich ihrer Arbeit und vergaß die Geschichte darüber.
Der Tag gestaltete sich trotz der Ereignisse absolut unspektakulär. Sonja war diszipliniert, wie so oft, und ließ sich ihre innere Erregung nicht anmerken. Sie konzentrierte sich vielmehr auf Anzeichen, wie sie Brandstetters Verhältnis zu ihr zu interpretieren hatte. Das diente im Moment sicher nicht hehren Versuchen zur Rettung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Jetzt war erst einmal purer Selbstschutz angesagt.
Brandstetter kam zur üblichen Zeit. Nur sensible Kenner seiner Person hätten eine gewisse Selbstzufriedenheit um seine Mundwinkel ausmachen können. Auch schien sein Gang etwas weniger schwer und unrund zu sein als sonst. Der Arbeitsalltag gestaltete sich wie immer. Keine Auffälligkeiten seinerseits, was Sonja Walter dazu bewog, auch ihrerseits keine Auffälligkeiten erkennen zu lassen. Sie war schon am Überlegen, ob sie diesmal eine seiner Avancen, die auch heute nicht ausblieben, anzunehmen, und wenn es eine Tasse Kaffee zur üblichen Besprechung zu Beginn seines Arbeitstages wäre. Sie wollte mehr wissen und dachte im ersten Moment, dass sie ihn aus diesem Grund näher kennenlernen musste, verwarf diesen Gedanken aber mit Abscheu. Doch eines Tages konnte der notwendige Selbstschutz wichtiger als die eigenen Emotionen werden.
So verging der Tag, Brandstetter ließ sich relativ früh mit seiner Limousine zu einer Parteiveranstaltung bringen. Sonja nutzte die Gelegenheit und verabschiedete sich ausnahmsweise pünktlich in ihren Feierabend. Vielleicht konnte sie sich um ihr Privatleben kümmern und Alessandro sehen. Und wenn nicht, wenigstens an die unbeschwerten Stunden mit ihm denken.
Die Obduktion hatte nichts ergeben. Wasser in den Lungen erhärtete die Theorie vom Unfalltod durch Ertrinken. Die Spuren einer Fesselung der feisten Knöchel waren dem Lebenswandel Burgers zugeschrieben worden. Alkohol im Blut stützte die Sichtweise. Akte zu und Thema durch. Köster konnte durch seine Untersuchung zu keinem anderen Schluss kommen. Es gab keinen Ansatzpunkt, der auf ein Gewaltverbrechen schließen ließ. Er hatte wenigstens auf Ungereimtheiten bei der Obduktion gehofft. Diese gab es offensichtlich nicht. Köster musste sich damit begnügen, zumindest offiziell. Er hatte nach wie vor ein ungutes Gefühl, das ihn bisher selten getrogen hatte. Was sollte er tun? Er war noch nie ernsthaft mit einer Situation konfrontiert, in der er sich in einem Zwiespalt befand, wo er hätte gegen die herrschende Klasse Stellung beziehen müssen, auch früher nicht. Er wollte dies aus seinem tiefsten Inneren auch nicht. Natürlich hatte er nicht selbst obduziert. Er konnte das auch gar nicht. Der zuständige Pathologe war ein langjähriger Kollege, dem er vertraute. Dennoch war er sich nicht sicher, ob die Untersuchung gründlich genug gewesen und mit der Hartnäckigkeit durchgeführt worden war, die ihn selber auszeichnete. Würde er seinem Bauchgefühl nachgeben, könnte das Ärger bedeuten. Er wollte keinen Ärger, zumal dies meist nicht dabei blieb. Natürlich waren ihm die Säuberungen der letzten Nacht nicht verborgen geblieben. Er hatte auch kein Problem damit. Wo gehobelt wird, fallen Späne, dachte er bei sich. Auch bei Burger konnte er kein Mitleid empfinden, war er für ihn doch immer Sinnbild eines sterbenden Systems. Somit war das Ableben dieses Sinnbilds, unabhängig von deren Ursache, absolut kein Anlass zu kritischen Fragen.
Doch er hatte seinen Ehrgeiz. Wenn er Ungemach witterte, musste er dem üblicherweise nachgehen. Die Frage würde sein, konnte Köster unauffällig dran bleiben? Oder war es schlichtweg besser, die Dinge auf sich beruhen zu lassen? Bei aller Identifikation mit der neuen politischen Ordnung, er wollte wissen, was passiert war und wieso. So war es immer. Aber Ärger mit seinen Vorgesetzten bedeuteten eher über kurz als über lang Ärger mit dem System. Und dies war eine Gefahr für Leib und Leben. Die Nacht hatte es gezeigt. Da zählte auch nicht, dass er bisher in Treue fest zur neuen Ordnung stand. Auch das hatte die Nacht gezeigt. Köster fürchtete auch weniger um sich selbst. Vor allem wollte er Unbill für seinen Sohn vermeiden. Ihm gehörte mit seiner wachen Intelligenz, mit seiner Offenheit, die in diesen Zeiten schon an Naivität grenzte, und seinem Optimismus die Zukunft. Und das sollte so bleiben.
Es gab dennoch keine Frage für ihn. Er würde weiter machen und wusste auch schon wie. Köster hatte als Sondermittler das Privileg, sich beinahe überall einschalten zu können. Und er würde zunächst auch gar keinen Verdacht erregen, wenn er an Longari dran blieb, denn schließlich gab es einen Einbruch aufzuklären. Und obendrein bei einem Journalisten. Das war in zweierlei Hinsicht wichtig. Zum einen musste natürlich für die internationale Öffentlichkeit der Schein gewahrt bleiben, dass auch unter den neuen Machthabern Verbrechen aufgeklärt würden, zumindest Verbrechen, die das Regime nicht selbst begangen hatte. Dies war gegenüber einer befreundeten Nation umso wichtiger. Entscheidend nach innen war natürlich die Begründung, die rund um das Thema Subversion und Konterrevolution kreisten, eine Begründung, die Köster im Hinblick auf Longari für weitgehend abwegig hielt. Also machte er sich auf den Weg nach Grünau. Er würde Longari antreffen. Das hatten ihm seine Späher bereits gemeldet. Denn man konnte ja nie wissen ...
Am Ziel angekommen, traf er Longari bei seinen Aufräumarbeiten an. Er war in der Kürze der Zeit gut vorangekommen. Irreparable Möbelstücke waren bereits entsorgt, um die anderen kümmerten sich zwei Schreiner, ein Maler beseitigte die Schmierereien an den Wänden, die Tür war bereits gerichtet. Longari selbst räumte auf. Als er Köster erblickte, begrüßte er ihn mit einem süffisanten Grinsen.
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