1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 "Nein, nein, obwohl trockene und gehaltvolle Weißweine wie dieser wären den Import schon wert. Sie haben mich da glatt auf eine Idee gebracht, " scherzte er. "Ich bin geschäftlich unterwegs. Ich arbeite für die Automobilindustrie meines Landes, " log er.
Beim Eintauchen in die Tiefen einer Gesellschaft behielt er seine wahre Profession für gewöhnlich erst einmal für sich. Das hatte zunächst mit der Authentizität der Informationen zu tun, die er zu gewinnen suchte. Und in diesem Fall wollte er auf der privaten Ebene seine Erfolgschancen nicht dadurch mindern, dass eine schöne Frau eine Mauer des Misstrauens um sich aufbaute, nur weil weite Teile seines Berufsstandes dies leider nur allzu oft rechtfertigten. Außerdem war das gar nicht so weit von der Realität entfernt. Er war Autonarr und seine Eltern versicherten ihm immer wieder glaubhaft, seine ersten Worte seien nicht – wie sonst üblich – "Mama" oder "Papa" gewesen, sondern etwas, was sich wie "Auto" anhörte. Dichtung oder Wahrheit? Völlig egal, die Geschichte konnte er als Vorherbestimmung seiner Leidenschaft für belle macchine , schöne Autos interpretieren. Und sie hatte Charme. So war seine Legende glaubwürdig.
"Ich arbeite für die Regierung – aber nur als unbedeutende Sekretärin."
Wieder war ihre Offenheit entwaffnend und Alessandro fragte sich, ob sie so offen gewesen wäre, hätte er ebenso offen über seinen Beruf gesprochen. Doch seine Menschenkenntnis - die ihn nur selten trog - sagte ihm, dass er einen Fehler gemacht hatte und er ärgerte sich dementsprechend. Sollte es so kommen, wie er es im Moment hoffte, würde er irgendwann zugeben müssen, Sonja längst nicht so ehrlich begegnet zu sein. Das konnte bereits gewonnenes Vertrauen zerstören . Silencio, silencio , sagte er sich. Alles noch sehr theoretisch und letztlich unsachlich. Er verschwendete Ressourcen in den Bau von Luftschlössern, ohne zu wissen, ob es sinnvoll war. Und notwendig war es im jetzigen Stadium sicher erst recht nicht. Außerdem musste man in der heutigen Zeit vorsichtig sein. Das war eine so oder so stichhaltige Begründung, sollte er sich ihr gegenüber eines Tages rechtfertigen müssen. Zurück zu La Serenita. Dieses Gefühl war ja schon beinahe wieder greifbar. Nur musste er den Umgang wieder erlernen. Er grinste, denn in diesem Fall konnte das schnell gehen.
Sonja erwiderte sein Lächeln. "Meist habe ich damit ein Gespräch beendet. Aber Sie ...??? Sie haben jetzt offensichtlich keine plötzlichen und sehr dringenden Termine, die Sie unverzüglich wahrnehmen müssen", scherzte sie. "Sehr ungewöhnlich. Aber als Italiener ..."
Sie blickte ihm direkt ins Gesicht. Er wirkte müde, doch seine Augen strahlten in einem warmen Braunton. Er war groß, schlank und gut gebaut. Das hatte sie sofort gesehen. Dann die dichten schwarzen Haare, die leichte Ansätze von Grau zeigten, der dunkle Teint. Er war interessant, sehr interessant sogar. Anders als andere. Gut aussehend und Ausstrahlung. Dazu weit entfernt von den Selbstdarstellern vergangener Tage. Ja, gerade diese Ausstrahlung. Longari war einfach eingetreten und der Raum gehörte ihm. Ganz ohne sein Zutun. Nicht, dass er das noch registrieren würde. Er wusste es schon zu lange, um diesen Effekt überhaupt noch wahrzunehmen. Er hatte es nicht nötig und wollte es auch nicht mehr wahrnehmen, so selbstverständlich war das Ganze. Sehr uneitel und damit im höchsten Maße souverän. Das war´s! Auf eine ganz unaufgeregte Art souverän. Genau, dachte sie sich. Sehr souverän. So musste für sie ein richtiger Mann sein. Und sie war fasziniert.
Das beruhte auf Gegenseitigkeit. "Nein, ich habe absolut keine dringenden Termine. Um diese Uhrzeit schon gar nicht, auch wenn manche meiner Landsleute in dem Ruf stehen, gerade in diesen Stunden besonders aktiv zu werden, die dunklen Stunden für noch dunklere Geschäfte zu nutzen. Einer meiner Geschäftspartner hat leider kurzfristig abgesagt," scherzte er. "Im Gegenteil, ich könnte doch im Moment gar nichts Besseres vorhaben, als mich mit Ihnen zu unterhalten. Möchten Sie etwas trinken? Ich lade Sie ein. Tun Sie mir den Gefallen."
Sie musste nicht überredet werden.
"Sehr freundlich, Herr Longari. Danke vielmals, ich nehme natürlich gerne an. Denn auch meine geschäftliche Verabredung für heute Nacht ist überraschend geplatzt. Ich habe also unverhofft eine Menge Zeit," lachte sie.
"Meine Freunde nennen mich Sandro", sagte er im sicheren Bewusstsein, dass eine tolle Frau mit dieser Dynamik nichts gegen eine schnelle Aufgabe von Förmlichkeiten haben konnte, zumal diese in ihrem Fall wirklich absolut überflüssig waren.
Und er hatte recht damit. Er wunderte sich nur kurz über Sonjas Wahl, einen Lambrusco zu trinken. Ihm würde ein derartiger Wein nicht über die Lippen kommen. Die erdrückende Süße überlagerte die nicht vorhandene Tiefe und außerhalb seines originären Anbaugebiets war dieser Rote schon deswegen nicht trinkbar, weil die verkauften Mengen nur durch mittelmäßigen Verschnitt zum Strecken der tatsächlich produzierten Menge möglich waren. Sei es, wie es sei. Ein eigener Charakter durfte einen sehr eigenen Geschmack haben. Zudem verlor sich sein kurzer kulinarischer Vorbehalt in der angeregten Unterhaltung, die sich zügig fortspann. Sie redeten über Gott und die Welt, viel über Kunst, sei sie bildend, die Kunst, sich geschmackvoll einzurichten, die Kunst, gut zu kochen, die Kunst zu leben und trotz dieser Zeiten zu genießen. Sie hatten viele und noch vielmehr Anknüpfungspunkte. Und die beinahe zwanzig Jahre Altersunterschied? Reine Theorie.
Dieser Altersunterschied blieb auch im Laufe der Nacht graue Theorie. Er war besser in Form als alle Liebhaber, die Sonja vorher gehabt hatte. Er hatte Erfahrung und setzte diese so ein, wie sie das von seiner männlichen Erscheinung erwartet und erhofft hatte: einfach souverän, zielsicher, mit Gefühl und Ausdauer. Er konnte sie, ihre Bedürfnisse und Erwartungen regelrecht lesen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie ausgehungert war, dass die Frustration in manchen Bereichen ihres Lebens sie so gleichgültig hatte werden lassen, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich in der Lage war, abzuschalten, sich fallen zu lassen, sich vollkommen hinzugeben. Im Lichte des Morgengrauens betrachtet, würde ihr dieser Gedanke neuen Mut einhauchen. Wenn diese Nacht das Ergebnis vorheriger Resignation gewesen sein sollte, sie nur deswegen in der Lage gewesen war, in totaler Weise zu genießen, unbelastet von allen anderen Gedanken, dann hatten diese Enttäuschungen zweifelsfrei etwas Gutes. Im Moment war sie einfach nur glücklich und verschwendete keine noch so kleine Windung ihres Hirns daran, ob dieses Glück von kurzer, gar von einmaliger Dauer oder vielleicht von Bestand sein könnte. Und das war der Clou, einfach nicht zu weit planen. Dann konnte sie wirklich entspannen.
Alessandro ging es ähnlich. Gerade die letzten Stunden bevor er ins Silberstein aufbrach, ließen den Schluss zu, dass von diesem Tag nichts Erinnerungswürdiges würde übrig bleiben. Das hätte er nicht gedacht. Dass er sich trotz der bedrückenden Erlebnisse der letzten Zeit seine Fähigkeit bewahrt hatte, das Glück einfach beim Schopfe zu packen, stimmte ihn optimistisch. Das konnte Zufall sein, einfach im passenden Moment in der richtigen Stimmung gewesen zu sein. Das konnte an einem heftigen Verdrängungsmechanismus liegen, der ihn in die Lage versetzte, alles Unangenehme rigoros auszublenden. Doch sehr viel wahrscheinlicher war in seinem Fall, dass diese Einstellung grundsätzlicher Natur war. Es gab immer wieder mehr oder weniger einschneidende Erlebnisse. Unter diese Kategorie fiel sicher der jüngste Umschwung in der politischen Kultur in Deutschland, so man in diesem Fall überhaupt noch von Kultur reden konnte. Dennoch, es gab auch immer und ohne jede Ausnahme Momente, die es zu genießen galt. Es gab schwere Situationen, sicher. Aber eines stand unverrückbar fest: Das Leben war schön, richtig schön. Gerade wenn er eine schöne Frau roch, so wie jetzt! Diese Haut, samtweich und warm. Dieser wohlgeformte Körper. Diese sagenhafte Figur. Sie zu fühlen, sie zu spüren war das Höchste. Das Leben war definitiv lebenswert, ganz klar. Und das markierte eine entscheidende Abweichung zu seiner sonst üblichen Einstellung. Hier handelte es sich für ihn um ein wirklich unverrückbares Dogma. Und das war ausnahmsweise gut so. Da konnte passieren, was wollte.
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