Doch dann gab es einige wenige Telefonate, plötzliche Einträge im Kalender Burgers, der lange nur gähnende Leere offenbarte. Und dabei war Köster auch über den Namen Alessandro Longari gestolpert. Schnell hatte er herausgefunden, dass Longari für die italienische Tageszeitung Il Messagero tätig war. Zunächst hieß das erst einmal vorsichtige Entwarnung, denn es handelte sich um ein seriöses altes Blatt einer mit Deutschland befreundeten Nation, nicht ein Medium, das für scharfen Enthüllungsjournalismus oder gar sensationsgierige Schlagzeilen aus dubiosen Quellen bekannt war. Soweit, so gut. Doch Köster dachte nach. Und wie so oft, nachdem er etwas an der Oberfläche gekratzt hatte, kam er nach und nach zu differenzierteren Schlüssen. Gerade, dass Longari für ein seriöses und äußerst angesehenes Blatt schrieb, ließ doch nichts Gutes vermuten. Hatte Burger wirklich mehr in der Hand? Reichten seine Informationen aus, das Interesse von ernst zu nehmenden Medienvertretern zu wecken? Und was bedeutete dies für seine Arbeit? War er jetzt tatsächlich auf einen Hochverräter und seine Helfershelfer gestoßen? Wie weit war die Sache jetzt schon gegangen? Hatten schon brisante Informationen den Besitzer gewechselt und wenn ja welche? Hatten seine Vorgesetzten recht und Burger musste zur Strecke gebracht werden, was immer das hieß? Welche Konsequenzen würden sich für sein Land ergeben, wenn brisante und belegbare Informationen veröffentlicht würden?
Köster hatte also nur eine Chance. Er musste sich mit Longari und seinen Kollegen beschäftigen. Deswegen war er auch sofort losgefahren, als die Einsatzzentrale einen Einbruch bei Longari meldete. Einbruch fiel nicht in seine Zuständigkeit. Er achtete sonst peinlich genau auf Zuständigkeiten. Doch hier bot sich erstmalig die Gelegenheit, persönlich in Kontakt mit einem ausländischen Journalisten zu treten, der offensichtlich von Burger auserkoren war, sensibles Material in die Welt zu tragen. Obendrein ohne dessen Verdacht zu erregen. Klar, Longari war einer von mehreren, die Burger getroffen hatte oder zu treffen beabsichtigte. Aber bei Longari war in dieser Nacht eingebrochen worden, er sprach nebulös darüber, was die Einbrecher gesucht haben könnten, aber nicht gefunden hätten und Burger, der potenzielle Informant, lag nur wenige Stunden später tot vor Köster. Zufall? Konnte sein, aber seine innere Stimme weigerte sich, daran zu glauben. Er hatte in seinem langen Polizistenleben einfach schon zu viel gesehen und erlebt. Gut, es war eine Möglichkeit, dass sich die vermeintlichen Zusammenhänge als Fügung des Schicksals herausstellten. Doch es war Kösters Aufgabe, das herauszufinden. Und er würde sich dieser Aufgabe mit aller ihm eigenen Gründlichkeit stellen. Auch wenn er dabei selber in Gefahr geriet.
Nach der Rückkehr ins Präsidium ließ er sich zunächst die Akte Longari bringen. Obwohl er sich matt und erschöpft fühlte, nahm er sich die Unterlagen sofort vor. Man konnte ja nie wissen. So vertiefte er sich in Longaris Leben, soweit dies aus den Akten deutscher Ermittlungsbehörden ersichtlich war. Geboren in Todi, einer alten, kleinen Stadt, 130 km nördlich von Rom und 40 km südlich der Provinzhauptstadt Perugia, 47 Jahre alt, ledig, keine Kinder, nach der Schule Volontariat bei einem unbedeutenden Regionalblättchen und Einstieg ins Berufsleben als Sportreporter bei eben jenem Provinzblatt, Aufstieg bis zum stellvertretenden Chefredakteur. Danach kam seine bisher zweite Station in seiner Karriere, der Wechsel zu Il Messagero , wo er zunächst ausschließlich über innenpolitische Dinge berichtete, dann an ausländische Brennpunkte geschickt wurde und über die Jahre eine Institution seiner Zeitung geworden war. Seine Meinung galt. Lapidar stand zu lesen, Longari würde sehr umfassend und detailgetreu erzählen. Wertungen seien ihm fremd.
Hier stutzte Köster. Ein Journalist, der nicht wertet? Schien unglaublich zu sein, denn er kannte keinen. Und wie selbstverständlich diese Mitteilung in den Dokumenten zu lesen stand. Trotzdem erweckte es in ihm den Gedanken, ob da nicht mehr dahinter steckte. So wie er Longari kennengelernt hatte, hatte dieser durchaus eine spöttische, regelrecht sarkastisch-zynische Ader. Und da stand, Wertungen seien ihm fremd. Nun gut, da muss ich mir eben mein eigenes Bild machen, dachte sich der alte Fuchs Köster. Außerdem empfand er einen Widerspruch zur Aussage, dass Longaris Meinung galt. Wie denn, wenn er angeblich nicht wertete? Köster, der scheinbar spröde und mürrische Polizist, übersah selbst beim Lesen nichts, obwohl das sicher nicht zu seinen Spezialgebieten gehörte.
Stationen seiner Aufenthalte im Ausland wurden aufgezählt, Washington, New York, Tokio, Moskau, London, Paris, die eine oder andere kriegerische Auseinandersetzung hier und da. In der scheinbaren Blütezeit der Republik in Deutschland war er schon mal für etwas mehr als zwei Jahre in Berlin gewesen. Nichts Außergewöhnliches. Sachliche Berichterstattung in die Heimat, einige alte Zeitungsausschnitte samt Übersetzung ins Deutsche lagen bei. Köster las quer und konnte sich mit einem flüssig lesbaren und scharfsinnigen Schreibstil vertraut machen, der strikt vor abwegigen Spekulationen haltmachte. Schien eine Situation unklar, boten sich mehrere Lösungen oder Sichtweisen, schilderte Longari diese so knapp wie möglich und so umfangreich, wie es für das Verständnis seiner Leser notwendig war. Sollten die sich doch einen Reim darauf machen. Keine Polemik schien die oberste Prämisse. Köster gefiel der Stil, wie ihn die deutsche Übersetzung wiedergab. Er ertappte sich sogar bei dem Gedanken, dass die Presselandschaft in Deutschland durchaus hätte einen Longari gebrauchen können. Schon rein aus stilistischen Gründen, von der offensichtlichen Sachlichkeit ohne zu langweilen, gar nicht zu reden.
Auch war zu lesen, dass Longari nicht nur berufliche Dinge bewegten. Er nahm die kulturellen Angebote der deutschen Hauptstadt rege in Anspruch, wobei Vielfalt und Abwechslung das Thema war. So wie bei seinen Beziehungen. Eine lange Litanei von weiblichen Bekanntschaften zierte die Akte. Da hätten wir gut zu tun, wenn wir die alle verhören wollten, dachte sich Köster und musste innerlich grinsen. Er selbst war diesbezüglich ja das genaue Gegenteil. Seine Schroffheit hatte kaum eine Partnerin lange ausgehalten und attraktive schon gleich gar nicht. So war er vor mehr als 35 Jahren bei seiner Frau hängen geblieben, keine Schönheit, aber weiblich. Und sie konnte im Kontra geben, wenn er übers Ziel hinausschoss, weil sie außer Herz auch noch Verstand besaß. Nicht nur was in der Bluse, sondern auch noch was zwischen den Ohren, dachte er schelmisch lächelnd und wusste, dass er sie ehrlich liebte. Außerdem hatte sie ihm einen prachtvollen Sohn geschenkt, der mittlerweile Maschinenbau studierte und sein ganzer Stolz war. Ja, das war Kösters Glück, was er auch wirklich so empfand. Seine Bodenständigkeit schien der totale Kontrast zu Longari zu sein.
"Ich brech´ die Herzen der stolzesten Frau´n, weil ich so stürmisch und so leidenschaftlich bin ...", summte Köster für einen kurzen Moment und grinste wieder über Longaris Liebesleben.
Dann wandte er sich wieder den Fakten zu. Über seinen aktuellen Aufenthalt stand kaum etwas Neues geschrieben. Der Tenor hatte sich nicht geändert. Doch Köster fielen zwei Dinge sofort auf. Ihm kam Longaris Schreibstil härter vor. Irgendwie unerbittlich. Lag es an einer Veränderung Longaris oder einfach an der Situation, über die er zu berichten hatte? Offensichtlich gab es keinerlei Beschönigungen in seiner Berichterstattung, keinerlei Verständnis für die Erbarmungslosigkeit, die manche Ereignisse bestimmte. Verständnis für die Beweggründe der neuen Machthaber, deren Anhänger und deren Helfershelfer? Keine Spur. Nicht das Longari seine Sachlichkeit verloren hätte. Nein. Aber es klang alles so anders, als in der staatlich gelenkten Presse seines Landes. War vielleicht die Situation tatsächlich so unerbittlich, gar brutal, wenn man eine leidenschaftslose und vollkommen nüchterne Bestandsaufnahme machte? Köster verwarf diesen Gedanken in diesem Moment. Dazu war er mit seiner tiefsten inneren Einstellung zu nah an der neuen Regierung.
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