Jetzt war er offensichtlich Geschichte und Alessandro empfand kein Mitleid. Es blieben ja noch genug von seinesgleichen übrig. Er dachte nach. Die Widersprüche ließen ihm keine Ruhe. Er wollte Antworten. Burger hin oder her. Wieso wollte er sich mitteilen, ausgerechnet ihm? Was hätte er zu sagen gehabt? Wäre es so gelaufen, wie Longari es erwartet hatte? Eine wirre Mischung aus Selbstmitleid, Schuldzuweisungen, Drohungen? Orakel über das Schicksal des deutschen Volkes, wenn er es nicht persönlich in eine glorreiche Zukunft führen würde? Der Unterschied zu den Perspektiven, die seine Führung eröffnete? Oder bestand die vage Hoffnung, etwas wirklich Entscheidendes, etwas Substanzielles erfahren zu können? Ausgerechnet von Burger? Und der sagenhafte Zufall, dass eben dieser Burger ausgerechnet in einer Nacht der großen Raserei versehentlich in die Havel fiel und ertrank? Das stank schlimmer als das Abwassersystem von Neapel. Alessandro musste sich wohl oder übel mit einer Person, die er verabscheute, befassen, wollte er wissen, was los war. Es waren zu viele Fragen und ein seltsamer Zufall.
Longari war üblicherweise routiniert genug, um sofort zu wissen, wie und wo er Antworten finden konnte. Doch das bezog sich auf Situationen, die klar und übersichtlich waren. Auch im "Neuen Deutschland" war die Situation klar und übersichtlich. Da waren die Machthaber und diejenigen, die sich zu fügen hatten. Aber das Klima der Angst erschwerte seinen unstillbaren Drang nach Aufklärung. Wohin sollte er sich wenden, ohne schlafende Hunde zu wecken, Repressalien auszulösen, von denen die geringste sicher die Ausweisung und der Entzug der Akkreditierung wäre? Dass die Machthaber sich damit aufhalten würden, war eher unwahrscheinlich. Die Rahmenbedingungen hatten sich seit seinem letzten Aufenthalt zu drastisch verändert, als dass er einfach ein paar Knöpfe hätte drücken können, um an die notwendigen Informationen zu kommen. Waren seine früheren Kontakte noch in der Lage, Hinweise zu geben, die das Bild der Situation entscheidend erhellten? Waren sie noch in ihren Positionen oder längst "entsorgt" und wenn ja, "gleichgeschaltet" oder Freidenker, waren sie mittlerweile tot, selbst eine tödliche Gefahr oder potenzielle Hilfe für ihn? Diese Herausforderung zu meistern, war schwierig und zweifelsfrei lebensgefährlich. Dennoch, er musste da durch. Alessandro wusste allerdings im Moment nicht wie und - insbesondere nicht, wie die ganze Geschichte ausgehen würde, schon gar nicht, ob er dann seine geliebte Heimat jemals wohlbehalten wieder sehen würde.
Für Sonja begann der Tag wie immer. Sie lebte nach dem Motto "Carpe diem" und nutzte üblicherweise den Tag, obwohl angesichts der Entwicklungen der letzten Zeit in der Politik und den daraus resultierenden Auswirkungen auf die Gesellschaft kaum Anlass dazu bestanden hätte. Doch Decke über den Kopf ziehen, wenn der Tag nicht vielversprechend zu werden schien, war ihre Sache nicht. Dennoch ertappte sie sich immer häufiger dabei, das Radio als Informationsquelle zum morgendlichen Kaffee ausgeschaltet zu lassen. Sie würde ihr "Bonjour Tristesse" spätestens im Büro erleben. Das genügte vollauf. Die immer wieder gleichlautenden Nachrichten, die die Veränderungen der "neuen Zeit" verkündeten, ermüdeten sie, zumal ihr professioneller Blick hinter die Kulissen der Macht ein anderes Bild zeichnete. Von der früheren Pluralität war ja nicht einmal ein Torso geblieben. Das hätte auch nicht ins aktuelle System gepasst. Doch Sonja dachte mit einer gehörigen Portion Trauer an die unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse, die sich ehemals auch in den Medien widerspiegelten. Ausdruck der Liberalität, der Weltoffenheit und der Lebensfreude früherer Tage. Das hatte ihrem Temperament entsprochen und war letztlich Sinnbild ihrer eigenen Lebenslust. Konnte sie früher beinahe von Gleichklang zwischen dem pulsierenden öffentlichen Leben und ihrem Wesen sprechen, war das Bild jetzt gespalten. Glücklicherweise. Sie hatte sich nicht unterkriegen lassen und auch den festen Willen, sich nicht zu beugen, sich ihre Inseln zu bewahren oder - wenn nötig - neue zu schaffen. Dazu gab es doch immer wieder schöne Momente. Sie dachte an Alessandro und ein Lächeln huschte über ihr ebenmäßiges Gesicht. Sie fragte sich einen kurzen Augenblick, was die Zukunft mit ihm bringen würde, wenn es denn eine geben konnte. Sie würde es genießen, egal ob sich eine kurze oder längere Affäre, vielleicht sogar etwas Ernsthaftes entwickeln würde.
Sonja Walter gab sich einen Ruck, denn für Melancholie und Romantik blieb keine Zeit. Sie musste ins Büro. Pünktlichkeit und Verlässlichkeit waren ein wesentlicher Teil ihrer Visitenkarte. So blieben ihre morgendlichen Abläufe routiniert und auf das Notwendigste beschränkt. Ausstrahlung konnte sie nicht durch noch so lange Aufenthalte im Bad erzeugen. Die hatte man oder eben nicht. Sie brauchte nur wenige Handgriffe, um sich frisch zu machen und die kaum sichtbaren Spuren der Nacht aus ihrem Gesicht zu vertreiben. Im Wettstreit zwischen ihrem Informationsbedürfnis und dem Verlangen nach einem halbwegs entspannten Start in den Tag stellte sie heute das Radio an. Das herrische Stakkato der Stationssprecher passte zum Trommeln der Machthaber. Das nahm sie kaum noch war. Doch auch ihr war die besondere Aufregung in der Stimme des Reporters aufgefallen, der ein Bild der vergangenen Nacht zeichnete. Eben nippte sie noch an ihrem Kaffee. Im nächsten Moment ließ sie die Tasse stehen. Ihr war schlagartig der Appetit vergangen. Natürlich hatte sie in gewisser Weise einen Kokon um sich herum aufgebaut, einfach um nicht irgendwann einen Zusammenbruch zu erleiden. Sie ließ nur manche Dinge an sich heran, die ihr meist beim Bewahren ihrer innersten Überzeugungen halfen.
Was sie jetzt hörte, erzeugte in ihr ein Gefühl aus Entsetzen, Wut und Hilflosigkeit. Natürlich mischte sich auch Angst darunter, was sich die couragierte junge Frau oft genug selbst nicht eingestehen wollte. Aber sie war da. Kein Zweifel. Nicht nur die begreifliche Angst vor der Zukunft. Was würde aus dieser ehemals so fröhlichen und vielfältigen Stadt werden, die sie so liebte, was aus dem Land und seinen Bewohnern, insbesondere den Menschen, die ihr etwas bedeuteten und letztlich natürlich auch aus ihr selbst? Konnte es jemals einen Weg zurückgeben, zurück zur Normalität, ihrem Verständnis von Normalität, zurück zu Recht und Gerechtigkeit, zurück zum ehernen Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastbar sei? Würde dieser Albdruck jemals enden?
Sonja hörte intensiver in sich rein, als sie ihre eigene Angst ausnahmsweise zuließ. Wie hatte sie von alldem nichts mitbekommen können, obwohl sie die rechte Hand Brandstetters war, von dem dies alles ausgegangen sein musste? Sonja Walter hatte nichts bemerkt, obwohl sie oft genug das Gras wachsen hörte, gerade im Amt. Das jagte ihr einen gewaltigen Schrecken ein, bedeutete das doch, dass sie Brandstetter maßlos unterschätzt hatte. Er war offensichtlich weit rücksichtloser, unnahbarer und noch schwerer zu durchschauen, als sie sich das vorstellen konnte. Aber eine Steigerung dessen, was sie sich bislang ausmalen konnte? Ging das überhaupt? In ihren Gedanken war das offensichtlich im Moment nicht möglich, in der Realität wohl schon. Denn diese hatte sie gerade überholt.
Sie besann sich ihrer Qualitäten und eine davon hieß, sich schnellstmöglich zu sammeln. Das war auch bitter notwendig, wollte sie nicht innerhalb kürzester Zeit selbst ins Fadenkreuz gelangen. Ob ihr da noch ein Brandstetter mit seinen linkischen Gefühlsaufwallungen helfen konnte? Sehr zweifelhaft, nachdem er sie über seine Planungen derart im Unklaren gelassen hatte. Vertraute er ihr überhaupt noch? Hatte er ihr jemals vertraut? Oder waren seine Vorstellungen ihr gegenüber auch nur Teil eines Spiels, seines Spiels, sie in die Irre zu führen? Nicht wieder vom Entsetzen über die jüngsten Ereignisse einfangen lassen! Nein! Sie musste sich zusammennehmen, denn sie wollte nicht nur überleben. Das wollte jeder. Nein! Sie wollte wie so oft mehr, wahrscheinlich sogar Unmögliches. Sie wollte wissen, was passiert war und das reichte ihr im tiefsten Inneren nicht. Sie sehnte sich nach der "guten alten Zeit" vor der Machtergreifung und den Teilen der Zwanziger, die man die "Goldenen" nannte. Sie wollte nicht Teil der schweigenden Mehrheit sein. Sie wollte diese Zeit überwinden helfen. Sie wusste natürlich nicht, was sie tun konnte. Was konnte Sie denn schon ausrichten, als einfache Schreibkraft, als junge Frau, alleine? Gerade letztere Tatsache schien das klassische K.O.-Kriterium zu sein, denn so viel war klar, sie würde so kaum einen Beitrag zur Entlarvung oder gar zum Sturz des Systems leisten können. Doch ihr eiserner Wille war ihr nicht nur bei ihren zahlreichen sportlichen Aktivitäten eine große Hilfe.
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