Also ließ er ihn ohne eine Gefühlsregung abholen. Eine offizielle Begründung für den Mitarbeiterstab wurde mit dürren Worten unter Hinweis auf seinen angegriffen Gesundheitszustand durch das jahrelange Engagement für Beruf und Kollegen abgegeben. Ende der Vorstellung. Womit Brandstetter natürlich nicht gerechnet hatte, war die Tatsache der engen Bekanntschaft zu seiner Sonja und die daraus resultierende Notwendigkeit, ihr jetzt eine glaubwürdige Begründung zu geben, die ihn bei ihr voranbrachte. Denn um Frank tat es ihm nicht im Mindesten leid. Eine Zecke musste beseitigt werden. Ein Routinevorgang und klinisch wie beim Hautarzt. Und außerdem gar nicht so selten mittlerweile ...
"Tja, Herr Frank," hob er an, "eine bedauerliche Sache, das mit seiner Herzschwäche. Es tut mir sehr leid, dass wir ihn verloren haben, doch hat er eindringlich darum gebeten, ihn vorzeitig in den Ruhestand gehen zu lassen. Wir wollten ihn umstimmen, auf einen ruhigeren Posten versetzen, doch nichts zu machen. Er reibe sich auf und sähe sich nicht mehr imstande, den an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Reisende soll man nicht aufhalten. Wir haben ihm jetzt noch einen Kuraufenthalt in einem unserer mondänen Sanatorien spendiert, quasi als Dank für die langjährigen treuen Dienste für das Vaterland. Das wird ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen ..."
Das wird dich ganz sicher auf andere Gedanken bringen, du verräterisches Schwein, dachte er für sich.
Sonja sah an Brandstetters verhärtetem Gesichtsausdruck, dass er – ganz Machtmensch – das Blaue vom Himmel herunter gelogen hatte. Und sie wusste sofort, wer so eine Geschichte auftischt, steckt hinter derselben. Sie musste schwer an sich halten, um vor Schmerz nicht laut loszuschreien. Nicht die Erkenntnis des Charakters ihres Gegenübers hätte sie dazu gebracht. Nein. Der Wicht war mächtig, aber ein Wurm und so würde er auch eines Tages enden. Dessen war sie sich sicher, bei allem, was ihr jemals heilig war. Die Sorge um ihren väterlichen Freund ließ sie beinahe zerspringen vor Wahnsinn. Ihm konnte sie alles anvertrauen, nicht der vermeintlich besten Freundin, die sie sowieso schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen hatte. An seiner Schulter konnte sie sich ausheulen, wenn es in einer der kurzen Beziehungen nicht so lief, das Glück mit ihm teilen, wenn es sie wieder einmal erwischt hatte. Auch er ließ sie seine Freude spüren, war sie doch praktisch zu seiner Tochter geworden, die ihm selbst ja nicht vergönnt gewesen war.
Sonja Walter sah ein, dass es hier keinen Sinn mehr hatte nachzubohren. Auch spürte sie Tränen der Trauer und Angst um den Freund in sich aufsteigen. Diese Genugtuung wollte sie ihrem verhassten Chef aber nicht geben. Also riss sie sich zusammen, war gerade im Begriff, ihr Lächeln wieder zu finden, um vorerst gute Miene zum bösen Spiel zu machen, als im Vorzimmer ihr Telefon ging. Erleichtert über diese Möglichkeit des Abgangs, bedankte sie sich kurz für seine Aufmerksamkeit, warf Brandstetter noch ein kurzes Lächeln zu, gequält, wie sie empfand, doch hoffentlich nicht so offensichtlich, dass Brandstetter es hätte bemerken können. Sie verließ sein Büro und hasste ihn mehr als alles andere auf dieser Welt.
Alessandro war mit seinem Lancia Thesis gemütlich vom Zentrum der Stadt in den Bezirk Köpenick und seinen Stadtteil Grünau gefahren. Meist nutzte er die wenigen Fahrten mit dem Auto, um zu entspannen, seinen Gedanken nachzuhängen, sich zu sortieren, ein Vorteil, wenn nicht sogar der einzige Vorteil gegenüber der U- und S-Bahn. Denn da holte ihn der triste Alltag nur allzu deutlich in Form verängstigter, bestenfalls ausdrucksloser Gesichter wieder ein. Auch konnte er die beredte Schweigsamkeit nur schwer ertragen. Deswegen nahm er verstärkt seine über zwanzig Jahre alte, aber durchaus mondäne und typisch italienische Limousine. Dazu passte sein zügiger, aber unaufgeregter Fahrstil, der sicher als eher unitalienisch zu bezeichnen war. Er ließ seinen Lancia einfach souverän und gelassen durch die Straßen Berlins gleiten. Gut zum Nachdenken. Häufig wurde er belächelt, dass er als angesehener Mitarbeiter einer noch angeseheneren Zeitung mit so einem alten Auto fuhr. Er wunderte sich kaum noch darüber. Es interessierte ihn auch nicht wirklich. Doch hinterließ die Tatsache, dass das selbst ernannte Volk der Dichter und Denker die Menschen meist nach der Maschine beurteilte, einen mehr als faden Beigeschmack. Vor allem, je hochgestellter seine Gesprächspartner zu sein schienen, desto häufiger traf er auf diese Verhaltensweise. Aber das passte. Gerade im Moment war nichts anderes zu erwarten.
Er freute sich jetzt auf ein gepflegtes Essen, ein wichtiger Bestandteil im Leben eines jeden Italieners, besonders, wenn es um das Abendessen ging. Er wollte Caprese und Saltimbocca zubereiten und danach ein Stück Pecorino zu sich nehmen. Dazu würde er sich einen gepflegten Sagrantino di Montefalco schmecken lassen, den er schon heute Morgen geöffnet hatte. Zum Abschluss der heiße Espresso. Die Kunst zu leben und zu genießen, Ars Vivendi als wichtiger Fixpunkt in seinem Leben. So er eben Zeit dazu fand. Und wenn er die Zeit dazu fand, war die Freude auf ein Stück Heimat, ein Stück Tradition besonders groß. Er war dann in seinen Gedanken besonders intensiv bei seiner Familie, die sich jeden Abend möglichst vollzählig zum Essen einfand. Nur einer fehlte meist und das war er. Schließlich war er weit weg in Berlin. Aber in diesen Momenten eben doch ganz nah. Glück musste man zu schätzen wissen, Glücksmomente auch bewusst erzeugen und erleben. Gerade in diesen Zeiten.
An seinem Haus angekommen, nahm er zügig die Stufen der breiten Treppe in den zweiten Stock, denn er brauchte die Ruhe und Entspannung, gepflegt zu Kochen und sich viel Zeit zum Essen zu nehmen, selbst wenn er allein sein würde. Außerdem wollte er die Tür so schnell wie möglich hinter sich schließen. Auch eine Form, mit der Realität umzugehen. Umso entsetzter war er, als er eben diese Tür zu seiner Wohnung erst gar nicht zu öffnen brauchte, denn das hatte schon jemand vor ihm getan. Schnell und entschlossen stieß er sie auf und blickte auf das reine Chaos. Die Wohnung war verwüstet, Bücher aus den Regalen gezerrt, Schränke und Schubladen standen offen, Esstisch und Stühle waren umgeworfen, das übrige Mobiliar teilweise erheblich beschädigt. Seine Unterlagen aus dem Schreibtisch lagen wild verstreut in der ganzen Wohnung. Offensichtlich hatte es Versuche gegeben, Teile dieser Unterlagen die Toilette hinunter zu spülen. Er war wütend, denn selbst die Wände waren nicht verschont worden und mit kaum leserlichen Schmierereien und Symbolen verunstaltet. Die kleine Insel Heimat lag vollständig in Trümmern.
Die Polizei kam in Form eines kleinen, kräftig gebauten und mürrisch dreinblickenden Kommissars mit seinem Gefolge. "Köster", stellte er sich kurz vor, wies seine Männer mit kurzen Blicken und Handzeichen wortlos an, die Untersuchung zu beginnen. Dann verschaffte er sich ebenso wortlos einen Überblick über die Situation.
Als er nach einer Weile damit fertig war, trat er auf Longari zu, zückte einen Notizblock und fragte unvermittelt: "Einen Verdacht?"
"Nein, natürlich nicht", erwiderte Alessandro ärgerlich.
"Der erste Eindruck lässt auf randalierende Jugendliche schließen, insbesondere wegen der Schmierereien", sagte Köster. "Fehlt etwas Wichtiges?"
Longari schüttelte den Kopf und fügte hinzu, dass er sich aber noch kein genaues Bild habe machen können. Er sei nach Hause gekommen, habe den Einbruch und sein Ergebnis gesehen, daraufhin sofort die Polizei verständigt, die auch innerhalb weniger Minuten prompt gekommen sei.
"Wertgegenstände?", fragte der Kommissar einsilbig.
Diese abgehackte Form der Fragen begann Alessandro zu nerven. Konnte dieser Polizist nicht in ganzen Sätzen mit ihm sprechen? Er hasste Sprechweisen, die eine Sprache verstümmelten, egal welche Sprache das war. So eilig konnte doch kaum etwas sein, dass keine Zeit war, sich klar und deutlich auszudrücken. Eine Berufskrankheit, die Alessandro gerade um diesen Gedanken kreisen ließen, obwohl seine liebe- und stilvoll eingerichtete Wohnung im Chaos versank und es doch Wichtigeres zu geben schien.
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