Trotz seiner nicht besonders ausgeprägten Sensibilität hatte sein unstillbarer Machthunger ihn sehr früh erkennen lassen, dass er nicht allein war, wenn es darum ging, Wasser zu predigen und selbst Wein zu trinken. Er nahm seine Organisation als Interessengemeinschaft wahr, natürlich. Das sollte sie in der öffentlichen Meinung ja auch sein. Nur dass der Blick hinter die Kulissen ihm – selbst als zunächst kleines Rädchen im großen Getriebe - frühzeitig die Augen über den wahren Charakter öffnete. Sie waren Interessenvertreter im wörtlichen Sinn. Jeder vertrat seine Interessen. Und zwar seine eigenen, nicht die, der anvertrauten Wähler. Und es gab dabei ein unterschiedliches Geschick, ein öffentliches Bild zu erzeugen und im Hintergrund sein eigenes Ding zu drehen.
Und er war geschickt. So geschickt, dass er sich nicht darauf verließ, Karriere in ein und derselben Partei zu machen. Dies hätte bedeutet, sich auf sein Glück zu verlassen. Das tat er aus Überzeugung nicht. So trat er mehreren Parteien und Organisationen bei, deren Programmatiken sich teilweise heftig widersprachen. Brandstetter war das egal. Ihn interessierte Programmatik nicht, sondern nur der Zeitpunkt, wann er unwiderruflich auf das Pferd setzen musste, das am schnellsten die Ziellinie überwand. Und diesen Zeitpunkt hätte er nicht besser treffen können. Seine jetzige Position bestätigte dies nachdrücklich, denn nun saß er im Zentrum der Macht. Er hatte alles richtig gemacht. Ohne ihn lief hier nichts. Und das war sicher nicht der Schlusspunkt.
Objektiv betrachtet, hatte er auch Glück, eine Tatsache, die Brandstetter natürlich nicht zu akzeptieren bereit war, war er doch in seinen eigenen Augen das Kind seiner eigenen klugen Schachzüge. Nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs kam die Rezession. Das Erwachen für alle Beteiligten war umso härter, da die Weichen eher Richtung unaufhaltsames Wachstum gestellt schienen, denn auf schlagartigen Verfall von Werten. Doch es war passiert. Die Auswirkungen waren wie üblich, Massenarbeitslosigkeit, damit einhergehende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, Firmenzusammenbrüche im großen Stil. Panik steigerte die Emotionen, Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Die Mächtigen waren unvorbereitet. In der Hauptsache die Beschäftigung mit den eigenen Pfründen hatte den Blick für die tatsächliche Entwicklung verstellt. In allen wesentlichen politischen Strömungen. Einige wenige Gut meinende versuchten sich der Entwicklung entgegenzustemmen. Doch sie hätten sich Gehör verschaffen und ernst genommen werden müssen, was die weitverbreiteten Eitelkeiten in der Politik auf allen Ebenen zielsicher zu verhindern wussten.
Die Wahrnehmung der Betroffenen war entsprechend. Das Vertrauen in die Etablierten schwand, und Viele waren der Meinung, vollkommen zu Recht. Neue Möglichkeiten wurden gesucht und in Form von Radikalen auch gefunden. Die neuen Kräfte schienen unverbraucht von den Versuchungen der Macht. Der Zulauf war zunächst unaufhaltsam, doch der Schritt zur unumschränkten Regierungsgewalt wollte nicht gelingen. Ein geschickter Strategiewechsel musste her. Und das war Brandstetters große Chance. Als Teil der Etablierten sah er die Zeit gekommen, seine Rechnung zu präsentieren. So nutzte er seine Kontakte, um seinen Teil zur Verbindung zwischen bewährten und radikalen Kräften herbeizuführen, deren offizielles Ziel die Bewältigung der einschneidenden Staats- und Wirtschaftskrise sein sollte. Die tatsächliche Absicht war wie so oft die Macht. Darin waren sich beide Lager einig, was natürlich so selbstverständlich wie unausgesprochen blieb: Die einen wollten deren Erhalt, die Anderen deren Gewinnung. Und Brandstetter tat alles dafür, dass sich letztlich das Lager durchsetzte, wo er sich ungehemmt entfalten konnte und welches ihn seinem persönlichen Ziel näher brachte. Die Etablierten waren irgendwann zu einer Randnotiz verkommen und würden bald vollends Geschichte sein. Er würde dafür sorgen. Denn es gab ja Mitwisser und die konnten irgendwann verhängnisvoll sein.
Das Telefon klingelte. Brandstetters Sekretärin erkundigte sich, eine hochrangig und international besetzte Delegation frage nach einem Termin mit dem Regierungschef, ob sie durchstellen solle. Er schnauzte - trotz des wie immer freundlichen Tons seiner rechten Hand - unwirsch zurück, das ginge jetzt nicht, sie sollten sich später noch einmal melden und dies nicht zu früh. Der Kanzler sei auf absehbare Zeit viel zu beschäftigt. Damit knallte er den Hörer auf die Gabel. Es war für ihn unerheblich, worum es eigentlich ging und wie die Delegation besetzt war. Das war schon immer Brandstetters Verständnis mitteleuropäischer Höflichkeitsformen gewesen. Was für ihn nicht unmittelbar zielführend war, konnte keine Aufmerksamkeit beanspruchen. Und seine neuen Gönner waren entweder von vornherein ähnlich gestrickt oder hatten im Rausch des neuen nationalen Selbstbewusstseins dieses augenfällige Verhalten der grauen Eminenz des Führers der deutschen Regierung adaptiert. Es schien nicht nur sehr praktisch und drückte die kaum zu übertreffende Arroganz gegenüber anderen Sichtweisen aus, sondern konnte ja bei späteren Entwicklungen förderlich sein. Es hatte sich ja schon oft genug bewahrheitet. Zudem war Brandstetter selbst der Meinung, dies sei Ausdruck besonderer Macher-Qualitäten. Und diese Qualitäten waren auch für seine unmittelbare Umgebung Ansporn.
Nicht so für Sonja Walter, seine Vorzimmerdame. Sie war trotz ihrer knapp dreißig Jahre noch ein "Faktotum" - wie sie sich innerlich grinsend selber sah - des früheren Systems, das sich demokratisch nannte und es manchmal auch war. Jedenfalls mehr als jetzt. Klar. Das war ja auch keine Kunst. Unbestreitbar ging es früher wesentlich respektvoller zu. Sie wunderte sich darüber, in ihren jungen Jahren Gedanken mit Floskeln zu beginnen, die sie immer so gehasst hatte, Gedanken, an die so genannte "gute alte Zeit" in der "alles besser" gewesen war. Sie hätte sich nicht träumen lassen, vor Ablauf ihres eigenen siebzigsten Lebensjahres zu solchen vordergründigen und inhaltsleeren Plattitüden zu greifen.
Genau genommen waren es aber keine Plattitüden, fand sie nach einigen Momenten der Besinnung. Denn die Gründe für ihre Argumente waren ja sehr handfest und real. Ja, es ging sehr viel respektvoller zu. Dies bezog sie weniger auf ihr Privatleben, das für sie im eigentlichen Sinne kaum stattfand, erschöpfte es sich doch meist in einem freundlichen Plausch in der Nachbarschaft oder auch in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, deren Tribut sie zahlen musste. Denn häufig wurde es abends so spät, dass an Zerstreuung nicht mehr zu denken war und das gerade in der krisenhaften Zuspitzung der Lage in den letzten Jahren. Ihre kleineren Affären waren selten, kurz und zuletzt natürlich ganz ausgeblieben. Das, was also ihr typisches Privatleben beschrieb, hatte sich durch die so genannte neue Zeit naturgemäß auch verändert, aber nicht im Hinblick auf den gegenseitigen Respekt. Vielmehr war die freundliche Beredsamkeit von einst einem angstvollen Schweigen gewichen, selbst wenn eine gewisse Vertrautheit der Gesprächspartner hätte vorausgesetzt werden können. Dennoch konnte sie immer noch durch Blicke und Gesten spüren, dass ihr Achtung und Bewunderung entgegen gebracht wurde, auch wenn keine Worte fielen.
Sicher, die Männerwelt gaffte oft genug, war sie mit ihren 1,75 Metern Körpergröße, den sehr langen, dunklen Haaren, den noch längeren Beinen, der sportlich-schlanken und dennoch weiblichen Figur ein echter Anziehungspunkt. Dazu dieses temperamentvolle und ausdrucksstarke Gesicht mit dem herzhaften Lachen und den funkelnden großen Augen. Das war sie schon gewöhnt und beachtete es kaum mehr. Sie hatte ihre Ansprüche und diese Art der Sympathiebezeugungen war kaum geeignet, in ihr Reaktionen auszulösen, die tieferer Natur waren. Dennoch empfand sie die Bewunderung auch immer wieder – da war sie durch und durch Frau - als Bestätigung, obwohl Sonja schon lange klar war, dass sie verdammt gut aussah und es dieser Anerkennung wohl kaum bedurfte. Es tat einfach immer wieder gut, denn Entgleisungen der mehr oder weniger heimlichen Bewunderer waren selten.
Читать дальше