Ihre Reaktionsschnelligkeit hatten sie sowieso schon vor Jahren und Jahrzehnten eingebüßt. Burger war dennoch irgendwann klar geworden, dass er den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollte. Die Frage, wer dabei welche Rolle tatsächlich spielte, war mittlerweile absolut unklar. Er versuchte, Brandstetter auf Distanz zu halten. Doch der kam immer näher. Er versuchte ihn zu diskreditieren, zu korrumpieren, seinen eigenen Hals auf irgendeine Weise zu retten. Die Schlinge zog sich enger und enger. Burger hätte es schaffen können. Doch er war nicht konsequent. Er war zu viel zu lethargisch. Und irgendwann nicht mehr tragbar. Brandstetter hatte sich in den Zeiten der sich verschärfenden Staatskrise die Fusion mit der Schwesterpartei zur endgültigen Ausschaltung Burgers zunutze gemacht. Seiner nicht ganz legalen Parallelkarriere bei eben dieser Schwester sei Dank. Jetzt war er der Herr im ganzen Haus. Burger war bei Lichte betrachtet schon lange ein Schandfleck. Brandstetter hatte dem Desaster ein Ende bereitet und war der geborene Saubermann. Die übrigen hochrangigen Funktionsträger hatten längst die Zeichen der Zeit erkannt und Burger stand alleine da, wo er selbst glaubte, absolut nicht hinzugehören.
Er war zutiefst gekränkt. Und er brütete schon eine Weile ergebnislos darüber, wie er sich rächen konnte, selbst wenn er sich dabei selbst mit in den Abgrund riss. Das wäre ihm die Sache wert. Er hatte viel zu viel gegen Brandstetter in der Hand. Aber schon alleine deswegen war seine Entscheidungsfähigkeit gelähmt. Burger wusste nicht, womit er anfangen sollte. Noch schwerer als er selbst, wog die Tatsache, dass seine über Jahre gepflegte Dekadenz ihn nicht losließ. Warum sich mit einer – wenn auch sehr massiven – Niederlage beschäftigen, wenn das Glück doch weiterhin käuflich schien? So schob er den Zeitpunkt einer Entscheidung immer wieder hinaus. Es bliebe ja noch genug Zeit, Brandstetter zur Strecke zu bringen, sagte er sich immer wieder. Diese Wahrnehmung trog und bewies, dass er nichts gelernt hatte. Er hätte wissen müssen, dass auch Brandstetter die potenziellen Auswirkungen ihrer langen Zusammenarbeit kannte und Mitwisser skrupellos ausschaltete. Schließlich hatte er, Burger, ihn dazu eingestellt, wenn auch jede körperliche Gewalt für ihn selbst immer tabu war.
Nicht so für Brandstetter. Jetzt brauchte er keine Rücksichten mehr zu nehmen. Die Anwendung exzessiver körperlicher Gewalt brachte ihm mittlerweile Applaus und sogar die eine oder andere Auszeichnung ein. Burger zeterte, er machte sich wichtig, schrie, er habe längst Kontakt zur internationalen Presse und sogar fremdländischen Geheimdiensten geknüpft. Brandstetter könne unmöglich davonkommen. Nur wenn er am Leben bliebe, könne er, Burger, einen handfesten Skandal, eine Staatskrise, einen Krieg oder Bürgerkrieg verhindern. Doch das Urteil war längst gefällt. So wie früher in seiner Ära als Parteivorsitzender, als er Karrieren beendete, wie es ihm gefiel. Und nun würde seine Karriere unwiderruflich beendet, Rückkehr ausgeschlossen. Hier war Brandstetter sehr viel konsequenter als Burger.
Sie hatten sehr schnell einen Galgen am Rand des Schwimmbeckens aufgebaut. Burger höhnte, ob sie denn nicht wüssten, wie man richtig henkt. Ein Galgen am Rande eines Schwimmbeckens? Hatte man so etwas schon gesehen? Sie packten ihn wortlos, vertäuten den Strick sehr sorgfältig mit den aufgequollenen, feisten Knöcheln Burgers, der sich in ein immer hysterischer werdendes Lachen hineinsteigerte, ob er jetzt mitspielen und so tun solle, als ob er jetzt ersticke oder ihm das Genick bräche. Sie hätten da wohl in Anatomie etwas falsch verstanden. Oder seien dies die Proben für die nächste Prunksitzung? Wenn ja, würde das Publikum ganz sicher seinen Spaß haben.
Ebenso wortlos wurde Burger mit den Füßen nach oben aufgehängt. Die langen Kerls hatten trotz des erheblichen Gewichts Burgers keinerlei Schwierigkeiten. Sie waren eine eingespielte Mannschaft. Dann banden sie den Strick so fest, dass Burger mit dem gesamten Kopf und auch nur mit dem Kopf ins Wasser tauchte. Zum Atmen würde er zeigen müssen, was die Muskulatur hinter seinem gewaltigen Bauch noch hergab. Es war ein erbärmliches Trauerspiel aus Sicht der Folterknechte. Schon beim dritten Versuch, den lebensnotwendigen Sauerstoff wenigstens noch zu erhaschen, brach er zusammen. Dazwischen lautes und schrilles Gequieke, als würde eine Sau im Schlachthof ihrer letzten Bestimmung zugeführt. Ein gewünschter und aus Sicht der neuen Machthaber und deren williger Vollstrecker überaus passender Nebeneffekt mit einem Schönheitsfehler: Es ging nicht qualvoll genug, weil zu schnell. Wildes Zappeln folgte, der Todeskampf hatte begonnen. Auch der dauerte nicht lange. Der Galgen war grundsolide und hielt das aus. Sie nahmen ihn ab, beseitigten routiniert ihre Spuren, warfen Burger in die nahe gelegene Havel und verschwanden so lautlos, wie sie gekommen waren. Den Rest würde die Kripo erledigen.
Alessandro Longari erschauerte. Es war ein früher Abend im Januar. Ein kalter Wind ließ die sowieso schon niedrigen Temperaturen noch kälter erscheinen. Obwohl er schon länger hier lebte und sich an das manchmal unwirtliche Klima in dieser Jahreszeit gewöhnt haben sollte, sehnte er sich gerade in diesem Moment besonders nach seiner Heimat tief im Herzen Italiens.
War es nur das scheußliche Wetter? Auch in seiner Heimat konnte es richtig kalt werden. Auch in Umbrien konnte der Wind richtig ungemütlich sein. Auf gut Italienisch mostruoso , eben scheußlich. Er brauchte gar nicht erst in sich hineinzuhören, um zu wissen, dass es trotz der typisch italienischen Leichtigkeit seiner Garderobe zuallerletzt dieser kalte Januar mit der besonders steifen Brise aus Osten war, der ihm die Gänsehaut über den Rücken jagte.
Natürlich vermisste er seine Familie, allen voran seine Eltern, die noch immer seinen Bruder Francesco bei der Bewirtschaftung des Hotels in seinem Geburtsort unterstützten, obwohl beider Gesundheit dies kaum noch hergab. Besonders die gutmütigen Augen seiner Mutter Filomena, die über achtzigjährig das war, was sie schon immer gewesen war, seit er denken konnte: l´anima della famiglia, das Herz, die Seele der Familie. Sein Vater Marcello liebte und bewunderte sie, intensiver und dankbarer als jemals zuvor. Seine Position als Capofamiglia berührte dies nicht im Geringsten. Was war das Familienoberhaupt schon ohne die Seele der Familie? Seelenlos, certo . Also gingen sie jeden Sonntag Händchen haltend die steile Hauptstraße zum Dom in den Frühgottesdienst. Das tat ihnen trotz des unübersehbaren körperlichen Verfalls einfach gut. Eine feste Größe in ihrem arbeitsreichen Leben seit mehr als sechzig Jahren und eine Facette ihrer kaum zu erschütternden Ausgeglichenheit. Wie der ausgiebige Plausch auf der Piazza del Popolo nach der Messe.
Und dann sein Bruder Francesco, gut 8 Jahre jünger als er, Alessandro, mit seiner Frau Beatrice, Daniele und Maria, den beiden Kindern. Erst zum Jahreswechsel hatte er sie besucht und das genossen, was ihm selbst bisher nicht vergönnt war, die stete Geborgenheit in der Familie mit der sprühenden Lebensfreude der beiden Kinder, wenn auch Letztere sich manchmal in derbe Streiche verstieg, deren Ziel meist er war. Alessandro musste lächeln. Die Gedanken an Daniele und Maria ließen ihn für einen Moment vergessen, wo er war.
Die Kälte hatte er verdrängt. Doch eine scharfe Böe riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Da war sie wieder, diese zähe und nicht nachlassende Kälte, als wollte sie ihn mit ihren Klauen nie wieder loslassen. Alle Verdrängung half nichts. Auch ein wärmerer Mantel hätte nicht geholfen. Diese Kälte hatte eine Schärfe, die über ein reines Witterungsphänomen hinausging. Diese Kälte wurde durch die Einsamkeit gesteigert, fernab seiner Familie, die er so liebte. Wetter klamm, ja, Einsamkeit, auch, natürlich. Doch das waren nicht die Faktoren, die diese Kälte zutreffend beschrieben.
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