Was sie tatsächlich verwunderte, war der Eindruck, dass selbst Menschen, die wussten, wo sie arbeitete und die unter dem neuen Regime durchaus zu leiden hatten, ihr warme und freundliche Blicke entgegenbrachten, auch wenn sich die Wortwechsel im knappen Gruß verloren und die Augen auch immer ein Stück weit Angst ausdrückten. Letzteres entsprach dem Zeitgeist und hatte weniger mit ihrer Person zu tun. Dies empfand sie als das eigentliche Kompliment an ihre stille Unbeugsamkeit und ihr zentrales Ziel, anständig zu bleiben, was auch passieren sollte.
Die Art und Weise des Umgangs im Büro machte sie aber rasend. Hier war die Wertschätzung nicht nur ihr gegenüber vollständig in sich zusammengebrochen. Die Bediensteten wurden ihrer Bezeichnung entsprechend behandelt, schließlich waren sie bedienstet. Da musste es ja Unterschiede geben, die sich kurz zusammengefasst in der Reduktion auf die jeweilige Personalnummer ausdrückten. Sie hatten zu funktionieren, nicht zu fragen, nicht mitzudenken, wenn sie denn dazu überhaupt für intelligent genug gehalten wurden. Auch waren schon Kollegen verschwunden. Offiziell wegen unüberbrückbarer Differenzen. Manchmal auch aus gesundheitlichen Gründen oder in beiderseitigem Einvernehmen. Und es gab einen vorsichtigen Flurfunk, der die Frage aufwarf, ob diese Kollegen jemals nach ihrem Ausscheiden irgendwann irgendwo wieder aufgetaucht seien, beruflich oder privat. Was die Angst steigerte und das Klima weiter vergiftete.
Nun gut dachte sich Sonja Walter und besann sich auf ihr Selbstbewusstsein. Sie stand auf und ging mit entschlossenen Schritten auf das Büro ihres Chefs Brandstetter, dem Büroleiter des Regierungschefs, zu. Sie klopfte resolut. Ein herrisches "Herein" war die Antwort. Sie trat ein und wartete geduldig darauf, bis Brandstetter geruhte, aufzusehen und sie wahrzunehmen. Ein kaum zu vermutendes und unsicheres Lächeln huschte für eine Sekunde über das Gesicht des hemmungslosen Machtmenschen. Es schien einen Augenblick so, als suchte er nach Worten, bis er hervorstieß, dass er den Innenminister zu einer Unterredung unter vier Augen erwartet hätte. Er stand linkisch auf, um ihr einen Platz an seinem Besprechungstisch anzubieten. Doch sie lehnte ab, es dauere nicht lange.
"Schade", erwiderte Brandstetter. "Meine Zeit ist knapp. Doch die möchte ich am liebsten mit Ihnen verbringen".
Sie empfand seine Äußerung als platt und oberflächlich, ganz typisch für einen wandelnden Komplex dachte sie. Sie verachtete ihn zutiefst. Machthungrig, kontaktarm und absolut skrupellos, aber seiner eigenen Sekretärin auf unbeholfene und total verklemmte Weise nachsteigen. Geld und Einfluss machten gerade in diesem Fall sicher nicht attraktiv, nicht bei mir, dachte sie stolz. Abgesehen davon, dass er ihr schon zu klein und zu schmächtig an Statur war. Die Kälte seiner Ausstrahlung – sofern sie überhaupt von Ausstrahlung bei einem Technokraten reden konnte – tat ein Übriges. Charisma war sicher etwas anderes.
"Herr Brandstetter, ich soll Ihnen eine Nachricht vom Innenminister übermitteln, dass er kurzfristig mit dem Kanzler zusammentrifft und deswegen den Termin mit Ihnen nicht halten kann. Es bedarf wohl noch einiger Vorbereitung", sagte Sonja höflich, aber bestimmt.
"Sonja, das Treffen mit dem Kanzler bin ich, sagen Sie das dem Minister. Schlechtes Zeichen, wenn der oberste Mann für innere Sicherheit und öffentliche Ordnung nicht weiß, mit wem er verabredet ist. Und wenn er sich jetzt erst vorbereitet ... Außerdem sollten Sie mich doch "Wolf" nennen, Sonja."
Wieder umspielte ein dünnes Lächeln seine noch dünneren Lippen. Er gab nicht auf. Er schien ernsthaft verliebt und wusste offensichtlich nicht, wie er mit dieser Gefühlsaufwallung umgehen sollte. Und gerade das machte ihn so lächerlich, dass er nicht wusste, wie er damit wirkte. Er konnte es auch nicht wissen, denn er hatte ja kaum Erfahrung trotz seiner mittlerweile fast vierzig Jahre. Das wusste Sonja schon längst. Käuflichkeit spielte nicht nur im politischen Leben Brandstetters eine Rolle. Es gab Dinge, die konnte man einfach nicht geheim halten.
"Herr Brandstetter, das ehrt mich. Doch Sie wissen, dass ich durch meine langjährige Tätigkeit im Amt, die aber vergleichsweise kurze für Sie persönlich, mich nicht in der Lage sehe, dieses Angebot anzunehmen" erklärte sie bestimmt.
Ihr umwerfendes und gewinnendes Lächeln nahm der Aussage für Brandstetter die Schärfe. Sie hatte ihn mit einer rechten Geraden zu Boden geschickt und er hatte es nicht wahrgenommen, sondern lächelte mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Unsicherheit zurück. Zunächst einmal gut so. Schließlich war er ja gefährlich, auch wenn Sonja das kaum glauben mochte, so wie er sich jetzt benahm. Aber sie war um ihrer selbst willen realistisch und vorsichtig genug.
"Die Delegation sollten Sie ernst nehmen".
Kaum jemand wagte es, mit Brandstetter in diesem Ton zu sprechen, schon gar nicht, wenn der Kern der Aussage darauf hinauslief, er wäre sich der Tragweite seines Verhaltens nicht bewusst.
"Die Reaktion war gelinde gesagt verärgert. Es geht um die Einhaltung geschlossener Verträge. Der amerikanische Botschafter wird sich sicher nicht noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen, sondern direkt höheren Orts um Unterredung bitten".
Sie wusste, dass der Botschafter dann auch bei Brandstetter rauskommen würde. Sie wollte ihm die Gelegenheit geben, ihr zum wiederholten Mal genüsslich diese Tatsache auseinander zusetzen, als würde die scheinbar einfach strukturierte Schreibkraft die Zusammenhänge nicht sehen können. Diese Möglichkeit der Selbstdarstellung für einen Machtmenschen aus einfachen Verhältnissen war für sie der immer wiederkehrende Mechanismus zum Selbstschutz, lenkte der doch von der fast schon dreisten Art ab, mit der sie einen der Mächtigsten des Landes immer wieder bloßstellte, verstohlen verurteilte, ja regelrecht lächerlich machte. Außerdem verstärkte es in Brandstetter das Gefühl, auf die in seinen Augen naive Sonja Walter aufpassen zu müssen und väterliche Gefühle zu verstärken. Auch eine Art Lebensversicherung. Denn wenn er sie schon im Moment nicht haben konnte, wollte er sie doch in seiner Nähe haben. Schließlich war ja noch nicht aller Tage Abend. Als Brandstetter seine Selbstbeweihräucherung beendet hatte, holte sie zum nächsten Schlag aus.
"Was ist eigentlich mit Herrn Frank, unserem Personalchef? Den habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen", fragte sie äußerlich unbefangen, obwohl sie innerlich vor Wut kochte.
Auch fühlte sie sich ein Stück weit hilflos. Frank kannte sie schon lange, bevor sie hier anfing, denn er war ein langjähriger Freund ihres verstorbenen Vaters. Er hatte ihnen über die erste schwere Zeit der Neuorientierung ihrer Familie geholfen und teilweise im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten auch finanziell unterstützt. Schließlich hatte er ihr sogar zu ihrer Lehrstelle verholfen, einer Stelle, der sie bis heute treu geblieben war, obwohl es ihr zunehmend schwerer fiel. Sie sahen sich regelmäßig, sei es zu Hause oder im Amt. Und seit fast einer Woche keine Spur von ihm. Sie wollte laut aufschreien und tat dies innerlich immer wieder. Doch es half nichts. So besann sie sich ihrer Stärke, die sie sooft ausgezeichnet hatte und ging direkt auf das Ziel los. Um sich selbst Mut zu machen, redete sie sich ein, sie sei es ihrem Ruf als Gründerin des undiplomatischen Korps schuldig. Die Angst vor der Antwort, der Reaktion, der Wahrheit blieb.
"Frank? Welcher Frank? Ach, meinen Sie vielleicht ... äh ... den drahtigen Endfünfziger mit dem Schnauzbart?" kam die scheinheilige Antwort.
Er wollte Zeit gewinnen, um seinen Schwarm nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen.
"Genau den meine ich" kam Sonjas schnelle Reaktion.
Du sollst keine Zeit zum Luft holen haben, du Lump, dachte sie sich. Doch sie hatte sich diesmal verschätzt. Brandstetter fand zurück in die Rolle des machtgierigen Instinktmenschen. Klar konnte er sofort etwas mit dem Namen Frank anfangen. Dieser nichtsnutzige Tagedieb hatte bis in die Tage unmittelbar nach der Machtergreifung – und natürlich auch schon lange davor - Flugblätter verteilt und "Aufklärung" betrieben. Aufklärung! Lächerlich! Nur die neuen Machthaber waren im Recht, ihre Mitmenschen aufzuklären, denn nur sie wussten um die Wahrheit und was davon für die Öffentlichkeit, den Mob, wie Brandstetter immer wieder geringschätzig dachte, gut war. Sie hatten Frank abgemahnt, die Flugblattaktionen wurden eingestellt. Dennoch war er durch seine langjährige Tätigkeit im Amt eine Respektsperson unter den Kollegen geblieben, hatte er sich doch immer wieder für sie eingesetzt, als es um Themen wie Entlohnung, Schichtdienst und andere arbeitsrechtliche Fragen ging. Auch hatte er sich – so oft es seine knappe Zeit erlaubte – private Sorgen und Nöte angehört und Seelentröster gespielt. Er war als Personalchef eine echte Vertrauensperson und ein Patriarch im positiven Sinn: mächtig, unangefochten, unbeugsam bis hin zur Sturheit und stets mit breitem Kreuz für seine Leute. Frank liebte seine Aufgabe. Damit war er auch ohne Flugblätter eine Gefahr, denn seine Meinung konnte ja kaum abgemahnt werden. Er, Brandstetter, hielt sowieso nichts von der Einhaltung formaljuristischer Rahmenbedingungen. Das war vor der Machtergreifung kaum nötig und jetzt sowieso nicht. Hier war er seinen Mitstreitern für die gemeinsame Sache voraus. Seine berüchtigte und viel zitierte Stärke. Er wusste das schon lange. Sie hatten noch eine Weile gebraucht, um wahrzunehmen, das es nicht mehr nötig wahr, irgendeinen Schein zu wahren.
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