Seit er für seine große alte Zeitung Il Messaggero schrieb, hatte er manches erlebt, besonders seit er als Auslandskorrespondent tätig war. Nicht nur die ständigen Irrungen und Wirrungen in seinem eigenen Land, das teilweise sehr eigenwillige Verständnis einer Balance zwischen Macht und Vertrauen in der italienischen Politik. Das hatte es schon immer gegeben, Normalität gewissermaßen, ebenso wie ausgeprägte und immer wieder komisch, ja geradezu grotesk anmutende Selbstinszenierungen der obersten Staatsführung. La Serenita , die charakteristische italienische Gelassenheit relativierten Vieles.
Überhaupt, diese italienische Gelassenheit. Eine feste Größe, scheinbar. Doch die schien selbst er als routinierter Berichterstatter im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich zu lassen, sobald ihn ein Auftrag über die Grenzen seiner Heimat ins Ausland führte. Er glaubte selbst schon lange nicht mehr an die immer noch verbreitete Sichtweise, das Gros der Italiener ließe sich sowieso nicht ernsthaft aus der Ruhe bringen. Meist sah er in Äußerungen dieser Art die heimliche Bewunderung, Aufregung, Hektik, Fremdbestimmung weitgehend ungerührt zur Kenntnis zu nehmen, unbeeindruckt zu bleiben von Dingen, die trotz ihrer momentan einschneidenden Wirkung sich doch immer wieder im Zeitgeist verloren. Und nicht zuletzt erblickte er darin auch den Wunsch, sich eine entspanntere Haltung leisten zu können. Einen Wunsch, den er als Italiener für sich mittlerweile als beinahe unerfüllbar einstufte. Obwohl er La Serenita mit der Muttermilch aufgesogen hatte.
An ihm selbst war Alessandro das schon lange aufgefallen, dass Vieles, über das er zu berichten hatte, nicht dazu geeignet war, sachlich und rein an Fakten orientiert betrachtet zu werden, obwohl seine Leser gerade dies von ihm erwarten durften. Es gelang ihm auch immer noch, seine Emotionen weitgehend aus seinen Artikeln herauszuhalten. Er war Profi, certo . Doch der Versuch, ein objektives Bild zu vermitteln, fiel ihm immer schwerer. Aufmerksamen Beobachtern blieb diese innere Zerrissenheit nicht verborgen, denn es hatte sich allmählich ein süffisanter Unterton in seine Lageberichte eingeschlichen, der sensiblen Charakteren einen klaren Weg wies.
Und nun, nach hautnahen, manchmal gefährlichen Einsätzen in den üblichen und immer wiederkehrenden Brennpunkten dieser Welt, stand er am Adlon in Berlin. Er war nach längerer Zeit wieder hier im Einsatz. Die Entwicklung verlangte nach einem ruhigen, souveränen Reporter, also nach ihm, wie sein Chef ihm kurz und knapp mitteilte, während er Longari die Reiseunterlagen übergab. Es gab keinen besseren Kenner der politischen Kultur in Deutschland im Allgemeinen und der Berlins im Speziellen. Das war jetzt auch schon wieder über 18 Monate her.
Vor Jahren hatte er schon einmal mehr als zwei Jahre in Berlin verbracht und sein ursprüngliches Bild angeblicher teutonischer Strenge und der scheinbar verbreiteten Ernsthaftigkeit, ja Humorlosigkeit in Deutschland revidieren müssen. Er hatte es aber auch nur zu gerne revidiert. Er hasste Humorlosigkeit, er hasste übertriebenen Ernst, der sich zur Verbissenheit auswuchs und ganz besonders hasste er Vorurteile. Er war natürlich selbst nie ganz frei davon, aber hatte eine tiefe innere Abneigung gegen alles Vorgefasste, scheinbar Unverrückbare. Longari war immer ein Stück weit verärgert, wenn er sich selbst dabei ertappte, kein möglichst umfassendes eigenes Bild einer Situation, sondern mehr oder weniger reflektiert die allgemeine Meinung verinnerlicht zu haben. Vorurteile??? Die hatten schon zu viel Unheil angerichtet. Also weg damit, zumindest in einem Bereich, den er, Alessandro, selbst beeinflussen konnte. Dieser Bereich war fast nur auf seinen eigenen Kopf beschränkt und selbst das schaffte er manchmal nicht wirklich.
Und bei seinem ersten Besuch in Berlin? Er war mit Gedanken voller Klischees angereist. Ärgerlich genug. Entsprechend sauer war er auch aus dem Zug gestiegen. Doch es hatte kaum eine Woche gedauert und Longari begann, sich wohlzufühlen. Das war ein gutes Zeichen, brauchte er für gewöhnlich recht lange, um ein Mindestmaß an innerer Ruhe zu finden, wenn er schon wieder reisen musste. Und er musste ja ständig reisen. Doch seine für Umbrien typische Bodenständigkeit hatte – wie so vieles – ihre zwei Seiten. Und eine war, dass Flexibilität nicht eben seine Stärke war. Das lag natürlich auch an seinen mittlerweile 47 Jahren, dass das Einstellen auf neue Situationen noch zäher vonstattenging als früher.
Also kam er nicht nur mit besagten Gedanken voller Klischees, sondern auch mit einer gehörigen Portion Skepsis in Berlin an, einer Skepsis, die zunächst gar nichts mit dem konkreten Einsatzziel zu tun hatte. Vielmehr hatte er immer wieder Angst davor, zu scheitern, sich nicht feinfühlig genug zu zeigen, seinen Lesern in der Heimat ein möglichst neutrales Bild zu vermitteln. Gerade weil Longari um den harten und kaum zu gewinnenden Kampf gegen Subjektivität wusste, wollte er mit seiner Arbeit kein Wasser auf die Mühlen derjenigen bringen, die diese Subjektivität pflegten und für ihre Ziele nutzten. Er nannte es sein Lampenfieber, das er eben vor jedem neuen Auftrag empfand.
Doch schlich sich damals in seine sowieso vorhandene latente Unsicherheit eine Komponente ein, die er nur in Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Deutschland im Allgemeinen und Berlin im Speziellen bringen konnte. Denn vorher waren ihm diese Empfindungen fremd. Dazu war er einfach zu lange im Geschäft. Jetzt ging die Geschichte über das übliche Lampenfieber hinaus und er führte es auf die Wurzel allen Übels zurück, nämlich auf Vorurteile. Seine Vorurteile. Er hatte einfach ein ungutes, regelrecht flaues Gefühl, ein Land und seine Hauptstadt besuchen zu müssen, das im Ruf stand, das genaue Gegenteil der italienischen Serenita zur Perfektion entwickelt zu haben. Perfektion schien sowieso das Stichwort. Nichts sollte schief laufen dürfen, nichts sollte Zufall sein, Ergebnisse zählten und diese hatten bitteschön Bewunderung und Ehrfurcht zu erzeugen. So eine Sicht, die Alessandro von zu Hause mitbrachte.
Umso so angenehmer war dann der Kontrast seiner Klischees zur Realität. Beinahe nichts davon traf zu. Die Lebensfreude, ja die pure Lust am Leben, die ihn sofort erfasste, als er den Bahnhof verließ, war eine der großen Überraschungen, die sein Berufsleben für ihn parat hielt. Die warme Sommersonne von damals half sicherlich, und als er zurückdachte, fiel im als Paradebeispiel die Fußball spielenden Kinder vor dem Reichstag ein. Dazu unzählige Familien, die sich hier zu Picknick und fröhlichem Plausch trafen. Es war eine geradezu ausgelassene Stimmung. Das hätte eine italienische Idee sein können, vor dem Parlament Fußball zu spielen und mit der Familie zu feiern.
Überhaupt die Vielfalt. Klar hatte er zu arbeiten. Aber er war Italiener. Also konnte er auch einen gewissen Mut zum Liegenlassen entwickeln. Und dann war er mit dem Blick hinter die Kulissen beschäftigt. Nicht hinter die Kulissen der Macht, nein. Das war Beruf. Er wollte Stimmung und Stimmungen aufnehmen, wollte wissen, wieso eine Stadt, ein Landstrich pulsierte oder eben nicht. Und Berlin pulsierte! Von Strenge keine Spur. Also ab ins Nachtleben, rein in Bars mit fetziger Musik, rein in prachtvolle Revuen, die immer wieder der Feder italienischer Bohemiens entsprungen schienen. Dazu die spitzen Zungen Berliner Kabarettisten, denen keiner der Mächtigen entkam. Und für die melancholischen Momente Konzerte in jeder nur vorstellbaren Besetzung mit jedem nur denkbaren Programm. Meist verflog seine Melancholie dann sehr rasch. Typisch für eine Metropole von der Größe Berlins, certo , aber so unerwartet. Gerade hier. Es gab buchstäblich nichts, was es nicht gab und was nicht möglich gewesen wäre und er hatte es genossen.
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