Hinter ihr blieb es ruhig. Wahrscheinlich mussten sich Dr. Omntumbu und der grüne Zwerg erst einmal sammeln.
Tilda fühlte sich mit einem Mal großartig. Ihre Übelkeit und auch die Schwäche waren plötzlich wie weggeblasen. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie sich richtig gut fühlte. So, wie sich früher immer gefühlt hatte, als sie noch gesund war.
Zielstrebig ging sie nach Hause. In ihrem Kopf ordnete sie währenddessen bereits alle Dinge, die sie vor ihrer Abreise noch klären musste. Ihr fehlte eine ESTA-Einreisegenehmigung für die Staaten. Zum Glück gab es dieses vereinfachte Visumverfahren für Reisen in die USA. Ein reguläres Visum hätte sie viel mehr Zeit gekostet. Zeit, die sie nicht hatte.
Tilda war in Eile. Je früher sie das alles klärte, desto ehr würde sie fliegen können. Zwischen der Beantragung der ESTA-Genehmigung und dem Abflug des Antragstellers mussten, wenn sie sich recht erinnerte, mindestens 72 Stunden liegen. Das würde ihren Abflug ohnehin verzögern. Sie konnte es sich also nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren.
Ludwig kam ihr in den Sinn. Tilda hatte das Gefühl, dass sie ihn anrufen sollte, um ihm zu sagen, dass er sie nicht abzuholen brauchte. Er wartete vermutlich auf ein Zeichen von ihr. Und ihre Eltern würde sie auch anrufen müssen. Sie würden sich bestimmt aufregen, würden ihre Entscheidungen für Fehler halten.
Als Tilda Ludwig anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie schon wieder zu Hause war, ohne Operation, dafür aber mit Reiseplänen für die Staaten, sagte der im ersten Moment erst einmal gar nichts. Er war offenbar geschockt. Vielleicht hatte ihm ihre Mitteilung auch einfach nur die Sprache verschlagen.
Tilda konnte seine Reaktion nicht nachvollziehen. Immerhin hatte sie ihm ihre Reisepläne tags zuvor schon angedeutet. Hatte er ihr nicht zugehört?
Jetzt, da er merkte, dass sie das alles ohne ihn entschieden hatte, begann er, Tilda Vorwürfe zu machen. Durch´s Telefon herrschte er sie barsch an: „Du spielst mit deinem Leben, Tilda! Das ist einfach unverantwortlich!“ Er schnappte nach Luft und fuhr heftig fort. „So viel Unverstand! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch jetzt nicht verreisen, als wenn nichts wäre! Ich versteh´ dich nicht! Das ist doch irre, was du da machst! Bist du denn lebensmüde?“
Er bemerkte jedoch bald, dass seine Einschüchterungen nicht die gewünschte Wirkung erzielten. Tilda war offenbar nicht zu bewegen, ihre Meinung zu ändern. Wütend legte er auf.
Irritiert starrte sie auf ihr Telefon. Sie hatte von ihm keine Beifallsbekundungen erwartet, aber auf keinen Fall Anschuldigungen und Vorwürfe. Dennoch stand ihre Entscheidung fest. Als Ludwig am Nachmittag nach Hause kam, wirkte er beleidigt und wortkarg. Tilda erkannte das sofort an seinem Gesichtsausdruck, als er zur Tür hereinkam. Immer, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, sprach er nicht mit ihr oder nur so wenig wie möglich. Kaum hatte er seine Jacke im Flur aufgehängt, hielt er Tilda an beiden Schultern fest und starrte sie mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit an. Während er ihr in die Augen sah, presste er aggressiv hervor: „Bist du denn verrückt geworden? Wenn Du jetzt fliegst, dann wirst du sterben!“ Er schluchzte merkwürdig auf. „Du wirst sterben, wenn du dich nicht behandeln lässt! Begreifst du das denn nicht? Geht das nicht in deinen Dickschädel?“
Ein wenig tat er Tilda sogar leid, weil er sich so aufregte. Beschwichtigend schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. „Aber Schatz, ich sterbe doch sowieso! Auch wenn ich Chemotherapie mache!“ Sie versuchte zu lächeln, aber das misslang. Kurze Zeit rang sie um ihre Fassung, bevor sie mit Tränen in den Augen fortfuhr: „Du! Du bist der, der nichts begreift! Es ist eine Palliativbehandlung, die ich bekommen soll! Palliativ – verstehst du, was das heißt? Sie rechnen nicht damit, dass ich es schaffen kann. Für die Onkologen bin ich tot! Tot! Toooooot!“ Ludwig ließ hilflos die Arme sinken. Er suchte nach Worten. „Aber…… vielleicht geschieht doch noch ein Wunder……und die Chemo hilft dir?!“, stammelte er. Er war vollkommen überfordert mit dem, was geschah. Tilda löste ihre Arme langsam von seinem Hals und sah ihm in seine angstgeweiteten, blauen Augen. So aufgelöst hatte sie ihn bisher noch nie gesehen. Mit fester Stimme erklärte sie dann entschlossen: „Nein, Ludwig. Auf ein Wunder werde ich nicht hoffen. Ich weiß, dass ich handeln muss. Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Aber ich werde es herausfinden. Dafür brauche Abstand.“ Ein wenig leiser fügte sie hinzu: „Ich bin doch kein krebskranker Lemming, der sich mit den vielen anderen krebskranken Lemmingen in den Abgrund stürzt, bloß weil all die anderen das tun!“
Resigniert ließ Ludwig sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und griff sich an die Stirn. Dann flüsterte er mit brüchiger Stimme: „Schatz, ich kann dir nichts vorschreiben. Das ist klar. Aber ich bitte dich inständig: Bleib hier und mach die Chemotherapie! Vielleicht bist du eine von den Wenigen, die damit wieder gesund werden!“ Tilda setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand. „Warum sollte gerade ich diejenige sein, die es damit schafft? Selbst wenn mir das helfen sollte, die Überlebenszeit bei Krebs über 5 Jahre hinaus ist so gering, dass du noch nicht einmal zuverlässige Statistiken darüber finden kannst! Und wenn man doch irgendetwas findet, dann ist das alles bloß geschönt und entspricht nicht der Realität. Wer kann das kontrollieren? Tatsache ist doch, dass jeder vierte Mensch in Deutschland an Krebs stirbt. Krebs ist damit die zweithäufigste Todesursache bei uns in Deutschland.“ Sie legte ihre Stirn in nachdenkliche Falten und fügte hinzu: „Das sind einfach verheerende Zahlen. Und weißt du, dass achtzig Prozent aller Ärzte selbst keine Chemo machen würden, wenn sie Krebs hätten? Mindestens achtzig Prozent! Das sind zumindest die, die das bei den Befragungen zugegeben haben. So sieht die Realität aus, Luddi!“ Herausfordernd blickte sie Ludwig an und strich sich das wirre Haar aus der Stirn. Ihre blauen Augen funkelten dunkel und angriffslustig, während sie weitersprach: „Ja, alle die ich kenne, sind tot! Davon lebt keiner mehr. Und die haben alle haben ihre Chemotherapie durchgezogen. Ich kenne nur zwei Frauen, die den Krebs überlebt haben. Und das ohne Chemo! Aber die beiden hatten Brustkrebs. Das ist sicher nicht vergleichbar. Bei Brustkrebs sind die Zahlen viel besser. Aber vielleicht haben sie auch überlebt, weil sie keine Chemo gemacht haben. Oder weil ihre Tumoren in Wahrheit gutartig waren. Wer weiß das schon.“
Tilda ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern Orangensaft zurück. Sie stellte eins auf den Couchtisch vor Ludwig und trank selbst einen großen Schluck von ihrem Glas, bevor sie es neben das seine stellte. „Und was Margarete angeht, eine der Brustkrebs-Frauen“, griff sie erneut das Thema auf, „vielleicht war das wirklich gar kein Krebs bei ihr. Vielleicht waren es nur Zysten oder Verkalkungen oder was weiß ich. Jedenfalls das, was man vor wenigen Jahren noch als gutartig bezeichnet hätte. Das glaubt sie auch. Heute ist doch angeblich alles immer gleich Krebs! Die gutartigen Tumoren scheinen ausgestorben zu sein. Das ist mir schon länger aufgefallen. Findest du das nicht auch merkwürdig?“ Sie sah ihn fragend an und als er nicht antwortete, sprach sie weiter: „Aber wenn man alles zu Krebs erklärt, dann hat man statistisch gesehen natürlich bessere Überlebensraten. Klar!“ Da Ludwig immer noch nichts sagte, fuhr sie fort: „Vielleicht lebt Margarete deshalb noch, weil das in Wahrheit gutartige Tumore bei ihr waren. Oder sie lebt noch, weil sie keine Chemo gemacht hat.“ Sie schaute einen Moment lang still vor sich hin und sagte dann nachdenklich: „Ich glaube, sie war auch noch bei so einer Besprecherin. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie bei so einer Frau war!“
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