Entmutigt wich Tilda seinem Blick aus. Tief in ihrem Innern hatte sich alles verkrampft, so als würde ein starker Druck ihren Körper zusammenpressen wie in einer Vakuumkammer. Sogar in ihren Ohren war dieser dumpfe Druck zu spüren. Ihr war, als säße sie in einem rasch sinkenden Flugzeug. Kam das etwa auch schon vom Krebs oder spielten nur ihre Nerven verrückt? Während Tilda darauf wartete, dass der Arzt wieder das Wort an sie richtete, fühlte sie, dass ihr Vertrauen in diese Art von Medizin noch mehr dahinschmolz. Das geplante Standard- Prozedere der Onkologie, das sich jetzt mit ihr in Gang setzen sollte, verstörte sie. Wollten die Onkologen ihren Fall einfach nur noch abarbeiten, damit sie und ihre Angehörigen das Gefühl hatten, es sei alles versucht worden? Nicht umsonst hieß es ja in Mediziner-Kreisen, heutzutage stünde hinter jedem Patienten möglicherweise ein Rechtsanwalt. Was ging da vor? Tilda war vollkommen verunsichert und am Ende ihrer Kräfte. War sie vielleicht schon so verrückt, dass sie sich das alles nur einbildete, dass sie all diese Dinge völlig überspitzt sah?
Nach all dem konnte sich Tilda nicht mehr vorstellen, dass das Krankenhaus auf ihrer Seite war. Alles, was sie wahrnahm vermittelte ihr nur noch mehr das Gefühl, als würde es von Beginn an keine Chance für sie geben. Es schien beschlossene Sache zu sein. Auch Dr. Umlauf gab ihr keinen fühlbaren Anlass zu der Hoffnung, dass sie sich irrte. Das passte mit ihrer kleinen, unvollständig gebliebenen Recherche über Bauchspeicheldrüsenkrebs zusammen, die sie in der Kürze der Zeit begonnen hatte. So gut wie keiner der Betroffenen schien diese Krankheit zu überleben. Insofern war Optimismus wohl wirklich fehl am Platze. Nach allem, was sie herausgefunden hatte, waren sämtliche Therapieversuche nur eine Verlangsamung des Sterbeprozesses, der sich lange vor der Diagnosestellung in Gang gesetzt hatte. Tilda drängten sich die grauenvollen Konsequenzen wie ein abscheulicher Film auf. Sie saß stocksteif da und starrte auf ihre weißen, eiskalten Hände unter dem Tisch.
Dr. Umlauf ahnte wohl, was in ihr vorging. Mit Sicherheit war sie nicht sein erster Fall dieser Art. Er schaute nachdenklich auf das Stück Papier vor sich, tippte mit dem Zeigefinger darauf und atmete geräuschvoll ein, bevor er sagte: „Das wir ihren Behandlungsplan schon haben, Frau Johannsen, hat möglicherweise damit zu tun, dass die Kollegen in der Klinik neue Erkenntnisse darüber haben, was am besten hilft. Dann erübrigt sich die Tumorkonferenz manchmal…... Wissen sie?“
Seine Worte klangen wenig überzeugend. Sie klangen vielmehr so, als würde er selbst nach einer plausiblen Erklärung suchen, damit seine ärztlichen Kollegen nicht in ganz so schlechtem Licht dastanden. Tilda versuchte währenddessen ein gequältes Lächeln. In Wahrheit war ihr zum Heulen zumute. Sie entgegnete, wobei sie sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und sie hinter das Ohr schob: „Was am besten hilft? Soviel ich weiß gar nichts - bei Bauchspeicheldrüsenkrebs“. Sie machte mit den Händen eine hilflose Geste und fuhr dann bitter fort: „Zumindest nach allem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte.“ Einen Moment lang presste sie ihre Zähne ganz fest aufeinander, um ihre Fassung nicht zu verlieren. Dann fügte sie angstvoll hinzu: „Gibt es denn überhaupt eine Chance für mich, die Krankheit zu überleben?“ Der Arzt sah sie an, als wäre das die ungewöhnlichste Frage auf der Welt. So, als hätte er nie im Leben mit etwas Derartigem gerechnet. Zögerlich entgegnete er, wobei er es vermied, sie anzusehen und den Blick auf die Akte vor sich gerichtet hielt: „Eine Chance gibt es immer, Frau Johannsen. Ja, die gibt es immer. Aber ihre Chance ist klein. Sehr klein! …….. Leider.“ Sein Blick streifte sie etwas unsicher. „Wir müssen sehen, was die Zukunft bringt. Wunder können wir wohl leider kaum erwarten. Es sei denn, sie belehren mich eines besseren…. Dagegen hätte ich nichts einzuwenden.“
Er richtete seinen Blick auf Tildas Gesicht, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen. Nachdenklich fügte er noch hinzu: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Anderes sagen! Es ist auf jeden Fall empfehlenswert, wenn sie sich noch ein paar schöne Tage mit ihrer Familie machen. Und wenn sie ihre persönlichen Angelegenheiten in Ordnung bringen. Nur sicherheitshalber, wenn sie verstehen was ich meine.“ Er ergriff seinen Kugelschreiber und drehte ihn einige Male nervös zwischen den Fingern hin und her. Dann gab er sich plötzlich einen Ruck und setzte seine Unterschrift entschlossen unter ihren Krankenschein. „Wenn sie die Chemotherapie nicht machen möchten, so kann sie niemand dazu zwingen, wissen sie? Aber es ist das einzige, was die Medizin Ihnen anbieten kann.“ Er machte eine kurze Pause und sagte dann, während er Tilda die Hand zum Abschied reichte: „Setzen sie mich bitte in Kenntnis, wie sie sich entschieden haben. Alles Gute für sie, Frau Johannsen!“
Tilda bedankte sich leise und ging hinaus. Irgendwie hatte sie das Gespräch noch mehr verunsichert. Sie hatte nun erst recht keine Ahnung mehr, was sie tun sollte. Tatsache war, dass sie eine Chemotherapie aus der Schublade bekommen sollte. Es war den Ärzten in der Onkologie offenbar klar, dass sie ein aussichtsloser Fall war. Ein Fall, für den sich der Aufwand einer individuellen Therapie nicht mehr lohnte. Bei diesem furchtbaren Gedanken erschrak sie über sich selbst. Es war ihr, als würde sich die Erde auftun und sie hinabziehen. Hinabziehen in ein riesiges, schwarzes Loch - unaufhaltsam, immer tiefer und tiefer. Welches grausame Schicksal war ihr beschieden, das sie schon mit dreißig Jahren sterben ließ? Niemanden der Mediziner schien sich wirklich dafür zu interessieren. Es kam Tilda so vor, als habe sie mit ihrer Diagnose eine medizinische Maschinerie in Bewegung gesetzt, die ihre Arbeit zwar verrichtete, der es aber vollkommen an Empathie und Optimismus fehlte und für die die Erfolglosigkeit ihrer Behandlung bereits unabänderlich feststand.
Als Ludwig von der Arbeit kam fand er Tilda in Tränen aufgelöst in der Ecke der Couch hockend vor. Sie hatte ihre nackten Füße unter der schottischen Wolldecke vergraben, die zusammengelegt neben ihr lag. Seit Stunden hatte Sie dort wie erstarrt gesessen. Sie wusste selbst nicht mehr wie lange. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen vom Weinen. Ihre blaue Jacke lag noch immer achtlos hingeworfen auf dem Fußboden im Flur. Ihre Schuhe standen daneben, mitten im Weg. Draußen begann es bereits ein wenig zu dämmern. Im Raum war es fast dunkel. Tilda hatte das Licht nicht eingeschaltet. Alles, was sie noch zu fühlen imstande war, war die Unausweichlichkeit ihres nahenden Todes. Die Furcht davor ließ sie vor Angst erstarren. Sie hatte in den letzten Stunden jedes Zeitgefühl verloren, hatte nichts gegessen und nichts getrunken. Da war nur noch die Angst, bald zu sterben. Diese Angst vermischte sich mit Hilflosigkeit und Panik zu einer grollenden Lawine, die unabänderlich auf sie zuraste.
Ludwig schaltete die kleine Lampe mit dem bunten, gläsernen Schirm an, die auf dem Fensterbrett zwischen den Blumentöpfen stand. Sie war ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrem letzten Geburtstag gewesen. Das Licht der kleinen Lampe war viel zu schwach, um den ganzen Raum zu erhellen, aber es war freundlich und warm und es half ein wenig gegen die zunehmende Dunkelheit des Raumes. Vorsichtig setzte er sich neben Tilda, als hätte er Angst davor, ihr näher zu kommen. Er streichelte ihr sanft übers Gesicht und ließ seine Hand tröstend auf ihrer Schulter liegen. Erst nach einer ganzen Weile, nachdem sie so stumm nebeneinander gesessen hatten, begann Tilda wieder zu weinen. Je länger sie weinte, desto stärker flossen ihre Tränen. Ludwig holte aus der Küche eine Packung Taschentücher, faltete eins davon auf und wischte ihr damit die Tränen aus dem Gesicht. Unvermittelt ging ein Ruck durch Tilda, die bis zu diesem Zeitpunkt nur apathisch dagesessen hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und schluchzte: „Ich will nicht sterben, Luddi!“ Sie spürte, wie Ludwig nach Worten suchte. Alles, was ihm einfallen wollte, schien viel zu banal zu sein, um sie trösten zu können. Hilflos drückte er sie an sich und krümmte sich dabei selbst zusammen, als hätte er Schmerzen. So saßen sie eine ganze Weile stumm beieinander. Draußen war es mittlerweile vollständig dunkel geworden und auch der Rest der Wohnung lag in absoluter Dunkelheit. Nur die Glaslampe auf dem Fensterbrett warf ihr spärliches, buntes Licht in den Raum. Tildas Tränen versiegten irgendwann. Mit dem Wissen um ihre aussichtslose Lage war sie vollkommen überfordert. Später am Abend gelang es ihr, sich ein wenig zu beruhigen.
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