Die lauter werdenden Rufe und eine noch größere Betriebsamkeit, als bislang wahrgenommen, holten mich frühzeitig an Deck. Ich sah, wie wir auf das am Horizont sichtbare Land zuhielten. Herr Long entdeckte mich und winkte mich zu sich heran. „Schau, Friedrich, dort ist Shanghai; endlich wieder in der Heimat“, fügte er hinzu. Nur zu gerne hätte ich dessen Worte wiederholt, aber meine Heimat lag unerreichbar für mich in der Ferne. Für Trübsal blieb jedoch keine Zeit, an Bord liefen die Vorbereitungen für das baldige Anlegen. Ich folgte Herrn Long zu der Empore, an welcher der junge und der alte Herr Tiu in einem angeregten Gespräch versunken, längst Platz gefunden hatten. Meine Begrüßung erwiderten sie nur kurz, um gleich darauf weiter zu diskutieren. Der alte Herr Tiu beachtete mich kaum, wogen ich wie stets den Eindruck hatte, die Blicke des Sohnes würden mich auf Schritt und Tritt begleiten, was mir einiges Unbehagen bereitete.
„Komm hierher“, forderte mich Herr Long auf, „von hier hast du noch einen besseren Blick, wenn wir den Hafen erreichen. Zudem stören wir die Herren nicht in ihrem Gespräch.“
„Ja, Herr Long“, folgte ich der Anweisung, „sie werden sicherlich Wichtiges zu bereden haben.“
„In der Tat, Junge; die Wege von Vater und Sohn werden sich hier für einige Zeit trennen. Herr Tiu Ning Qiang wird für noch etliche Zeit in Shanghai verweilen, während wir uns mit dem Dashi zu dem Anwesen der Familie Tiu aufmachen.“
„Herr Tiu Ning Qiang bleibt alleine zurück?“, wiederholte ich fragend das soeben Erfahrene und hätte nur zugerne gewusst, was Herr Long unter einem Dashi verstand. Dass er damit den Sohn meinte, war unmissverständlich. Doch war es die Bezeichnung für einen Steuermann, obwohl ich ihn nie am Ruder stehen sah? Zu einem späteren Zeitpunkt wollte ich diesbezüglich meine Neugier stillen.
„Tiu Gang Bao interessiert sich nicht zu sehr für die geschäftlichen Dinge seines Vaters, er pflegt einen gänzlich anderen Lebensstil“, ging Herr Long auf meine Frage ein, „was ihn jedoch nicht davon abhält, den Vater gelegentlich zu begleiten, wie es eben bei dieser Reise der Fall ist. Wir werden eine Nacht in Shanghai verweilen, Herr Tiu Ning Qiang besitzt hier ebenfalls ein großes Haus, wo auch das Lager für unsere Waren untergebracht ist. Von Shanghai aus schaffen wir die bei euch so begehrten Waren nach Batavia oder sogar bis hin nach Osmanien. Es kommen durchaus, wenn auch eher selten, Schiffe aus Europa hierher. Morgen werden wir uns dann mit der Kutsche auf den weiteren Weg machen und, sofern die Fahrt gut verläuft, nach zwei Tagen das endgültige Ziel erreichen.“
„Aber, Herr Long, vielleicht liegt ein Schiff im Hafen von Shanghai, welches mich nach Europa bringen kann?“, wagte ich nachzufragen.
„Du bist noch jung, doch bei hellem Verstand, Friedrich. Natürlich haben wir schon selbst darüber nachgedacht, doch bedenke, dass wir uns für dich verantwortlich fühlen und dich nicht einfach auf ein Schiff bringen können ohne sicher zu sein, dass du deine Heimat lebend erreichen wirst. Sieh nur, die Stadtmauern kommen in Sicht; sie bieten uns Schutz vor den Piraten“, wechselte Herr Long das Thema.
Näher und näher kam unsere Dschunke dem Hafen, bis wir schließlich den Liegeplatz erreichten, der allem Anschein nach für dieses Schiff reserviert war.
Während sich die Besatzung noch damit beschäftigte, dass Schiff ordentlich zu vertäuen, die restlichen Segel einzuholen und alles an Bord in Ordnung zu bringen, machten sich Herr Tiu Ning Qiang, dessen Sohn und Herr Long auf, die schwankenden Planken gegen festen Boden zu tauschen. Vornweg, um den Weg zu bereiten, schritten die beiden Kräftigen, welche ihre breiten Schwerter am Gürtel mit sich führten und die ich anfangs für Piraten gehalten hatte.
Das Hafenbild prägten gewaltige Dschunken, die festgezurrt an der Mauer lagen oder im riesigen Hafenbecken ankerten. Dazu kamen Galeonen, Karavellen und so mancher Schiffsbau, den ich nicht einzuordnen wusste. Auf mich wirkte das Treiben wie ein heilloses Durcheinander, welches mich dennoch in seinen Bann zog, weil es so reichlich Neues zu entdecken gab. Zwar konnte ich Kutschen entdecken, wie sie daheim in Xanten oder auch in Amsterdam anzufinden waren, doch gleichfalls gab es etliche kleine, zweirädrige Karren, auf welchen Fahrgäste ihre Plätze einnahmen; diese wurden jedoch nicht von Pferden oder Maultieren gezogen, sondern zumeist ausgemergelte Gestalten spannten sich selbst davor und mühten sich, oftmals Wohlbeleibte von hier nach dort zu ziehen.
Beinahe an jeder Ecke loderten Feuer von Garküchen. Die voluminösen Töpfe darauf glühten selbst dermaßen rot, als wollte ein Schmied sie weiterverarbeiten. Aber Kräuter und Gemüse, wie unzählige andere Dinge verschwanden darin, um nach kurzen Augenblicken als dampfende Mahlzeit in Schalen angeboten zu werden. Bei meinen neugierigen Beobachtungen musste ich allerdings unbedingt darauf Acht geben, Herrn Long nicht aus den Augen zu verlieren. Ohne ihn wäre ich hilflos verloren in dem Trubel. Der Hafen von Shanghai erschien mir weitaus größer und lebhafter zu sein, als der von Amsterdam; aber so schön, geordnet und sauber, wie der in Amsterdam, war er keineswegs.
„Und, gefällt es Dir, Friedrich?“, fragte mich Herr Long.
„Sehr, Herr Long“, erwiderte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. „Allerdings gehen wir dermaßen schnell, dass ich kaum Gelegenheit habe mich richtig umzusehen.“
„Wart´s nur ab, Junge. Gleich haben wir das Haus von Herrn Tiu Ning Qiang erreicht; wenn er und sein Sohn dort einkehren, dann machen wir uns mit Wa Dong und Liu Hang, den beiden Kräftigen, auf, werden uns im Hafengebiet weiter umsehen und schauen, ob eine der Galeonen vielleicht den Kurs nach Amsterdam einschlägt.“
Bereits kurze Zeit später war es dann soweit. Die Herren Tiu verschwanden nach kurzem Wortwechsel mit Herrn Long in dem erreichten Gebäude, und wir machten uns anschließend, wie vorhergesagt auf den Weg. Die vielfältigen und fremdartigen Eindrücke faszinierten mich derart, so dass die steten Erklärungen Herrn Longs dazu mich teilweise überhaupt nicht erreichten. Da wir nur langsam vorankamen dauerte somit eine Weile, bis wir schließlich zu einer weithin sichtbaren Galeone gelangten. Nach kurzem Wortwechsel mit einem der an Bord befindlichen Seeleute enterte Herr Long hinauf auf das Deck des Schiffes und ich sah ihn angeregt reden, währenddessen ich mit den beiden Kahlköpfen untätig wartete.
„Ich denke, es ist nicht ratsam, Dich an Bord dieses Schiffes zu bringen“, rief Herr Long und kam die Planken herab auf uns zu. „Es sind Portugiesen. In vier Tagen wollen Sie die Segel setzen und nach Lissabon zurückkehren. Dir wäre damit nicht gedient, Friedrich; Du wärst der Heimat nur scheinbar näher und dennoch bliebe sie unerreichbar für Dich.“
„Ja“, stimmte ich enttäuscht zu und sah erst jetzt die Flagge wehen, welche das Schiff deutlich als auswies. „Aber, Herr Long“, wagte ich eine Nachfrage, „wäre es denn nicht besser, wir würden ebenfalls in Shanghai verweilen, wo doch ständig neue Schiffe ankommen.“
„Dass hier ein Schiff der VOC anlegt, Friedrich, ist eher selten. Batavia ist nuneinmal deren Umschlagplatz. Außerdem, wer sollte sich hier in Shanghai um Dich kümmern? Herr Tiu Ning Qiang ist alt und mit seinen Geschäften befasst. Nein, Du bist unser, wenn auch nicht ganz freiwilliger Gast und wir fühlen uns verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass Dir kein Leid zustößt.“
„Und, wie lange werde ich Euer Gast sein, Herr Long?“
„Du darfst nicht ungeduldig werden, junger Mann. Wer wüsste besser als Du, wie lange so eine Überfahrt dauert. Komm, lass uns eine Kleinigkeit essen, bevor zum Haus zurückgehen“, strebte Herr Long auf eine der Garküchen zu. Herr Long und ich nahmen die dargereichten Schalen mit dem dampfenden Inhalt entgegen und ich tat es Herrn Long gleich, hielt die Schale dicht an meinen Mund und schob mit den ebenfalls erhaltenen Stäbchen den Inhalt nach und nach in meinen Mund. Selbst das geräuschvolle Schlurfen und Schmatzen ahmte ich eher unbewusst nach, um keinen Fehler zu begehen. Gelangweilt standen indes Wa Dong und der ihm wie ein Zwilling gleichende Liu Hang wenige Schritte entfernt und schauten dem Hafentreiben zu. Kaum das die Schalen geleert waren, drängte Herr Long nun darauf, rasch zum Haus des Herrn Tiu zurückzukehren.
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