Am fünfzehnten Tag, es war noch nicht richtig hell, wurde ich wach, ohne die Worte oder eine Berührung von Herrn Long zu spüren. Eigentlich hatte ich vor abzuwarten, bis Herr Long erschien. Die Zeit, die ich mit geöffneten Augen im Bett lag, wurde mir jedoch zu lang. Ich machte mich auf den Weg, um zu dem Platz zu gelangen, an dem ich mit dem Dashi sonst die Übungen vornahm. Er stand bereits dort und als er mich sah, lag ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht. Ich ging zu ihm, verbeugte mich, wie ich es gelernt hatte und wollte erklären, dass Herr Long es versäumt hatte, mich zu wecken. Doch, als würde er meine Worte verstehen, schüttelte er den Kopf, als er aus meinem Mund die ersten Worte vernahm und begann mit dem Laufen. Er drehte sich nicht mehr um die eigene Achse, meinen Bewegungen folgend, als ich die folgenden Runden wieder alleine lief, sondern stand in sich versunken einfach nur da. Bis er mich schließlich mit einer knappen Handbewegung zu sich rief.
Er begann tief und regelmäßig zu atmen und dazu ganz langsam die Arme oder auch die Beine zu bewegen und deutete an, es ihm gleich zu tun. War ich zunächst sehr froh, nun womöglich an den teilweise anstrengenden und schmerzhaften Übungen vorbei zu kommen, so war ich doch erstaunt, wie mühsam das Atmen in Verbindung mit diesen langsamen Bewegungen sein konnte. Die Schweißperlen rannen über mein Gesicht. Wir hatten uns gerade wieder gegeneinander verbeugt und somit die Übungen des heutigen Tages beendet, als Herr Long zu uns stieß. Der Dashi ging bereits zum Brunnen, ums sich zu waschen, als ich Herrn Long ein wenig vorwurfsvoll ansprach:
„Herr Long, Ihr habt vergessen mich zu wecken.“
„Bin ich Dein Diener, Junge?“, fragte dieser nicht weniger vorwurfsvoll zurück. Warst Du nicht zeitig beim Dashi?“
„Doch aber…“
„Nein, nicht aber, Friedrich“, unterbrach er mich, „nicht ich möchte vom Dashi lernen, sondern Du. Weshalb also sollte ich immer so früh aufstehen, wenn Du es bist, der lernen möchte? Ich werde Dich nicht mehr aufwecken und Du wirst, wie auch heute, dennoch zeitig beim Dashi sein; er wartet nämlich nicht gerne auf seine Schüler“.
Jetzt erschien mir Herr Long wieder so ernst und unnahbar, wie beim ersten Zusammentreffen auf der Dschunke. Ich war froh, sein freundlicheres „komm, wir gehen essen“ zu hören.
Bei der sich anschließenden Lehre der Kalligraphie schien der vorhergegangene Disput vergessen und Herr Long erzählte, dass er in dieser besonderen Art des Schreibens viele Schriften für reiche Kaufleute zusammenstellte.
Auch den sich daran anschließenden Sprachunterricht führte er so fort, wie alle Vorangegangenen. -Ich nahm mir fest vor, für die Zukunft meine Worte besser zu überdenken.
Die Zeit, die Herr Long mit mir verbrachte, um mich die Sprache, die Kalligraphie und Sonstiges zu lehren, füllte etliche Stunden des Tages aus. Die Freundlichkeit, mit der mir hier im Hause des Händlers Tiu Ning Qiang alle begegneten, ließen mich die anfängliche Scheu verlieren und gerne gab ich bei den gemeinschaftlichen Essen meine Fertigkeiten der Sprache zum Besten. Wenn ich die daraufhin folgenden Gesten der Anwesenden richtig deutete, erhielt nicht nur ich dafür Zuspruch, sondern auch Herr Long erntete Lob, da ihn wohl alle für einen guten Lehrer hielten.
Viele Wochen war ich nun schon zu Gast bei der Familie Tiu und konnte durchaus einige Worte des Gesagten verstehen und mich gleichfalls, wenn auch unbeholfen, in der fremden Sprache äußern. Dies war unbestritten ein großer Verdienst Herr Longs, welcher sehr großen Wert darauf legte, dass ich zumindest versuchte, das, was ich ihm sagen wollte, auf Chinesisch zu sagen. Doch mitunter trug dies immer noch zur Belustigung meiner Zuhörer bei.
So sehr ich mich auch eingewöhnt hatte, somit die frühen Morgenstunden stets in gewohnter Weise mit dem Dashi verbrachte und die anschließenden Stunden mit Herrn Long beisammensaß, ich hatte nicht vor, für ewig zu bleiben. Meine Sehnsucht galt meinem wahren Zuhause. Selbst, wenn ich mich hier nicht mehr als Fremdling fühlte, gingen meine Gedanken immer hin zu meinen Eltern. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ich mich mit einigen Kindern der Bediensteten mehr oder minder angefreundet hatte. Dies wurde seitens der Familie Tiu nicht unbedingt mit Freude aufgenommen, doch man ließ mich gewähren.
Für das heutige gemeinsame Abendessen hatte Herr Long die Rückkehr des Herrn Tiu Ning Qiang angekündigt.
Wohlwollend nickte mir der Hausherr an diesem Abend von seinem Platz aus zu und Herr Long sprach ebenso eifrig auf ihn ein, wie sein Sohn Tiu Gang Bao. Als ich wenige Sätze meines chinesischen Sprachsatzes holprig aufführte, erntete ich dafür wieder dieses anerkennende „Aah“ und „Ooh“. Das wohl größte Lob erhielt ich aber wahrscheinlich von dem Dashi, dem sonst kaum eine Gefühlsregung anzumerken war, als er sich mühte, in meiner Sprache zu sagen: „Gut Friedrich, sehr gut, Friedrich.“
Danach sprach jedoch überwiegend der alte Herr Tiu; allerdings dermaßen schnell und für mich unverständlich, dass ich kein Wort verstand. Dem folgte wiederum ein allgemeines „Aah“ und „Ooh“, was von einem lauten „Ganbei“ des Herrn Tiu Ning Qiang übertönt wurde. Daraufhin erhoben die Männer ihre mit einem Branntwein gefüllten Gläser. Nur der Dashi blieb ebenso beim Wasser oder beim Tee, wie ich es natürlich tat.
Nun wandte sich Herr Long mir zu. „Friedrich, Tiu Ning Qiang erzählte soeben, dass ihm berichtet wurde, die Mirte hätte den Hafen von Batavia unbeschadet verlassen können. Zudem würde dort kräftig gearbeitet, um die Stadt wieder herzurichten und der Handel ist ebenfalls wieder aufgenommen worden. Es ist also nur eine Frage der Zeit, wann euer Schiff dort wieder anlegen kann und anlegen wird.“
Diese Nachricht nahm ich mit großer Freude auf. Da sich die drei Männer jedoch wieder miteinander unterhielten, schien mir nun auch die Zeit gekommen, meine Kammer aufzusuchen, denn früh am Morgen standen wieder die Übungen an. Schwach konnte ich von meinem Bett aus noch vernehmen wie ein „Ganbei“ dem Nächsten folgte, bis ich in einen sehr angenehmen und mit Träumen angefüllten Schlaf fiel.
Zeitig erschien ich beim Dashi, doch einen wirklich erholsamen Schlaf hatte ich wegen der Träumereien nicht gefunden. Dies zeigte sich auch bei den folgenden Übungen, wobei diesmal der Dashi nicht die Strenge an den Tag legte, zu der er sonst bereit war. Es lag wohl an seinem Verständnis dafür, dass die erfahrenen Neuigkeiten mich sehr mitnahmen.
Woche um Woche verstrichen so in stets gleicher Weise. Am frühen Morgen fand ich mich zu den Übungen ein, bei denen der Dashi seine Anforderungen an mich stets ein wenig nach oben schraubte. Dann, nach einem kräftigenden Mahl, wartete bereits Herr Long auf mich, um mir mehr und mehr den scheinbar endlosen Schriftzeichen nahezubringen. Überwog zu Beginn meine Freude von Herrn Long unterrichtet zu werden, und nahm ich die steten Übungen mit dem Dashi doch eher deshalb in Kauf, um nicht unhöflich zu erscheinen, so änderte sich im Laufe der Zeit meine Einstellung dazu. Nun freute ich mich auf das Eine ebenso wie auf das Andere, ohne dass ich noch einen Unterschied ausmachen konnte, was mir lieber wäre. Herrn Long überraschte ich zudem gelegentlich mit neu erlernten Worten, die ich während der spärlichen Stunden des Umgangs mit den Kindern der Bediensteten, aufschnappen konnte.
Seit meiner Ankunft auf dem Anwesen der Familie Tiu mochte etwa ein halbes Jahr vergangen sein, als eines Abends, wir saßen beim Tee beisammen, ein Mann hereinstürmte und aufgeregt zu Herrn Long sprach. Ich verstand zu wenig, um dem Gespräch folgen zu können, jedoch meinte ich gelegentlich, meinen Namen in der mir mittlerweile vertrauten Form „Fliedlich“ herauszuhören.
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