„Du darfst dich nicht bewegen, Ada! Bitte!”, meinte Pater Michael bestimmt und drückte mich zurück auf die Patientenliege.
Ich war zwar ziemlich hinüber, dennoch war mir nicht entgangen, dass er meine Frage zum zweiten Mal ignoriert hatte. „Wo is mein Baby? Ich will mein Baby!” Meine Stimme zitterte nun vor Angst, weil ich nicht wusste, was passiert war. Ich versuchte meinen Kopf auf dem Kissen herumzudrehen, damit ich mich in dem Raum umsehen und nach meinem Kind suchen konnte. Aber aus irgendeinem Grund wollte er nicht so wie ich.
„Bitte, Ada! Du darfst dich nicht bewegen. Du musst dich ausruhen”, flehte der Pater mich an.
Ich weinte noch mehr, weil ich keine Ahnung hatte, was los war, und es machte mir eine wahnsinnige Angst. Meine Atmung wurde schneller. Ich war kurz davor zu hyperventilieren. Wieso gab er mir nicht einfach mein Kind? Wenn alles in Ordnung war, wieso zeigte er mir meine Tochter nicht? Die Angst und Verzweiflung lagen wie ein schweres Gewicht auf meiner Brust. Hastig versuchte ich Luft in meine Lunge einzuziehen, aber mir wurde nur schwindelig davon. Meine Augen blickten zur Decke, die sich merkwürdig schnell drehte. Dann wurde alles schwarz um mich herum.
Als ich erwachte, sah ich über mir die Decke meines Schlafzimmers. Angestrengt überlegte ich, was geschehen war. Langsam versuchte ich meinen Körper zu bewegen. Mit meinen Armen ging es ganz gut, auch wenn ich eine merkwürdige Schwere in ihnen verspürte. Ich strich mit ihnen über die Bettdecke. Unter meinen Fingern spürte ich die Stickereien der Überdecke, die jemand über mich gelegt hatte. Ich versuchte meine Füße zu bewegen. Auch das funktionierte. Und meine Beine? Ja, auch die konnten sich einwandfrei bewegen, obwohl auch in ihnen dieselbe Schwere lag wie in meinen Armen. Meine Fingerspitzen bewegten sich weiter tastend herum. Plötzlich spürte ich unter ihnen etwas Weiches. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass es Haare waren. Ich versuchte mich aufzusetzen, damit ich nachsehen konnte, wer es war. Allerdings kam ich nicht weit und fiel rasch wieder zurück in die Kissen. Ich hatte nur einen kurzen Blick werfen können, aber ich wusste, dass es Pater Michaels Schopf war, der neben meinem Bein auf der Matratze lag. Meine Hand wanderte blind zu seinem Gesicht und legte sich darauf. Ich fummelte herum. Irgendwie musste ich ihn ja schließlich wach machen! Er schlief allerdings so fest, dass es ihn herzlich wenig kümmerte, dass ich in seinem Gesicht herumstocherte. Also versuchte ich meine schweren Beine irgendwie so weit zu bewegen, dass ich ihn anschubsen konnte. Nach wenigen Augenblicken zuckte er zusammen. Na endlich!
Erschrocken schoss sein Kopf hoch, und er sah sich im Zimmer um, als müsste er sich erst wieder daran erinnern, wo er war. Dann sah er, dass ich wach war. „Ada!”, rief er überrascht aus. „Du bist wach. Endlich. Gott sei Dank.” Tränen traten in seine Augen. Er nahm meine Hand und küsste sie sanft.
Sofort entriss ich sie ihm wieder. „Ich will zu meinem Kind!” Ich bat ihn nicht darum. Ich verlangte es, ohne jegliche Umschweife. Pater Michael sagte nichts, sondern sah mich nur traurig an. „Michael, ich will sie sehen!”, verlangte ich erneut und spürte sofort, wie mir die Tränen in die Augen schossen und sich meine Kehle verengte. „Nur für einen Moment möchte ich sie in den Armen halten”, fügte ich mit brüchiger Stimme hinzu.
Der Pater seufzte und setzte sich auf die Bettkante, sah mich aber nicht an. „Du weißt, dass das nicht geht”, begann er, aber ich fiel ihm ins Wort.
„Ich will zu meinem Baby!” Meine Stimme war laut geworden, und die Verzweiflung machte sie schrill.
Aber Pater Michael ließ nicht mit sich reden. Er war unnachgiebig wie ein sturer Ochse! Wie konnte er nur so herzlos sein? Hatte er denn kein bisschen Verlangen danach, seine Tochter zu sehen? Wenn er mir mein Kind nicht geben wollte, würde ich es mir eben holen gehen!
Ich fing an, mit den Beinen die Decke weg zu strampeln und rollte mich zur anderen Seite des Bettes hinüber. Mir wurde schwindelig dabei, aber ich ließ mich davon nicht aufhalten. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und stellte mich hin. Alles in dem Raum drehte sich um mich herum, und ich hörte Pater Michaels Stimme hinter mir, die meinen Namen aufgeregt rief. Schwankend setzte ich einen Fuß vor den anderen und bewegte mich vorwärts. Meine Arme streckten sich nach der sich bewegenden Zimmertür aus. Meine Hände fuchtelten wie wild in der Luft herum und griffen nach etwas, was sie so sehr vermissten.
„Du darfst noch nicht aufstehen, Ada. Du musst dich ausruhen! Du bist noch zu schwach”, sagte der Pater und packte mich an den Schultern.
Ich wehrte mich gegen seine Hände, die mich zum Bett zurückziehen wollten. Krampfhaft versuchte ich sie abzuschütteln. Aber er war einfach zu stark, und ich war zu schwach. Ich schluchzte verzweifelt auf. Meine Knie wurden unter mir weich wie Pudding. Dann sackte ich zusammen. Ich landete in Pater Michaels Armen. Auch wenn ich dort jetzt am wenigsten sein wollte, krallte ich mich an ihnen fest. Bettelnd sah ich zu ihm auf. „Bitte, Michael. Bitte lass mich zu meinem Kind ge- .” Meine Stimme brach weg, als mich meine Tränen überwältigten.
„Es tut mir leid, Ada.” Das war alles, was er sagte.
Ich schluchzte laut auf, weil ich verstand, dass sie bereits weggebracht worden war. Und ich fragte mich, wie lange es wohl schon her war, dass man mir meine Tochter weggenommen hatte. Ich vergrub mein Gesicht in dem Stoff seiner Soutane und hielt mich an dem Mann nach Trost suchend fest, der für diesen Schmerz verantwortlich war.
Ich wusste nicht, wie ich zurück in mein Bett gelangt oder wie viel Zeit vergangen war, seitdem ich versucht hatte, aus meinem Zimmer zu gelangen. Ich hatte das Gefühl für alles verloren und an nichts Interesse. Trauernd lag ich in den Kissen und starrte vor mich hin. Pater Michael hatte mir etwas zu essen auf den Nachttisch gestellt. Auch daran konnte ich mich nicht erinnern, wann er zuletzt hier gewesen war. Doch die Ränder des Käses waren bereits angetrocknet, was mir sagte, dass das Sandwich schon eine ganze Weile dort stehen musste. Mir war aber nicht nach essen. Und auch nicht nach trinken. Alles wonach ich verlangte, war, mein Kind zu sehen. Stattdessen öffnete sich die Tür zu meinem Schlafzimmer, und der Pater trat ein. Mein Blick war auf den Boden gerichtet, sodass ich nur seine Füße sah und wie sie sich mir näherten. Neben dem Bett blieb er stehen. „Du hast nichts gegessen”, bemerkte er. Am Klang seiner Stimme hörte ich, dass er besorgt war. „Du musst etwas essen”, sagte er fürsorglich.
Ich konnte es nicht ertragen, wie er jetzt zu mir war. Für mich klang es wie Heuchelei, dass er sich nun um mich Sorgen machte. „Ich will zu meinem Baby!”, forderte ich, ohne ihn dabei anzusehen. Ich hörte, wie er tief durchatmete. Verlor er die Geduld mit mir? Gut! Denn dann würde er mich vielleicht doch schon bald zu ihr lassen.
„Es geht nicht, Ada. Du weißt das. Wir haben es so oft besprochen”, sagte er. Meine Augen fingen an zu brennen, als die Tränen aufstiegen. „Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid”, säuselte er, als er sah, dass ich anfing zu weinen.
Alles in mir zog sich zusammen, als hätte mir jemand in den Bauch geboxt, und mein Herz fühlte sich an, als würde es von einer kalten Faust umschlossen. Vor Trauer und Wut verzog sich mein Gesicht. „Lass mich allein!”, brachte ich mit rauer Stimme hervor und schloss die Augen. Ich wollte ihn nicht sehen. Sein Anblick war für mich unerträglich. Er flüsterte meinen Namen und berührte mich an der Schulter. „Fass mich nicht an! Geh weg von mir! Lass mich einfach in Ruhe!”, fuhr ich ihn an. Seine Berührung war für mich entsetzlich, seine Gegenwart zuwider. Als er sich nicht rührte, drehte ich mich auf meine andere Seite und kehrte ihm den Rücken zu. Irgendwie wusste ich aber, dass er mich ansah. Ich spürte seine Blicke so deutlich auf mir, als wären es seine Hände.
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