Auch die Fahrerin des schwarzen Audi spielte nicht mit. Fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Ampel zu. „Rot“, rief Saletta, „Mascha, rot! “
Mascha stockte kurz, aber statt umzukehren, griff sie sich mit der Hand an die Kehle. Sie schien keine Luft zu bekommen und fiel augenblicklich zu Boden. Der Wagen überrollte sie und die schweren Reifen hinterließen Abdrücke auf ihrem kleinen Körper. Die Fahrerin hielt kurz an, fuhr dann aber mit aufheulendem Motor weiter. Saletta begriff nicht gleich. Wer war dieses Kind, das dort lag? Wo war Mascha?
Mit einem Schrei löste sich ihre Erstarrung und sie rannte zu ihr. Der Verkehr kam zum Erliegen, jemand stellte ein Warndreieck auf. Saletta wünschte, die ganze Welt stünde still und spürte doch unaufhörlich ihren eigenen Rhythmus ins Leben hämmern. Da lag sie ja, die Augen weit aufgerissen, starr. Kein Atem, kein Puls, kein Herzschlag. Aus.
Ein Schmerz einte Mutter und Tochter, verzögert um wenige Augenblicke; das ist komisch , hörte Saletta sich wie von fern her denken, es tut weh, als würde mir jemand mit dem Baseballschläger den Schädel zertrümmern . Vorsichtig nahm sie ihr Kind hoch. „Mascha.“ Kein zärtliches Flüstern würde sie zurückholen.
Plötzlich von unbändiger Wut entflammt, spürte sie unmenschliche Kräfte, Kräfte, die sie im Leben nicht für möglich gehalten hätte, die reine Kraft des ungefilterten Hasses. Sie musste diesen Menschen finden, der ihr und ihrem Kind das angetan hatte, sie musste ihn zerstören, sie musste diese Kraft nutzen, bevor sie verschwand.
Mit Mascha im Arm rannte sie los, langsam, vorsichtig, damit sie ihr nicht entglitt, dann schneller, immer schneller, immer zorniger. Sie wusste, sie hatte niemals im Leben etwas Sinnloseres getan, aber sie kannte keinen Sinn mehr und keinen Verstand, sie rannte dem Audi hinterher, es war ein schwarzer Audi, sie durfte das nicht vergessen, aber sie hatte sich das Nummernschild nicht gemerkt, wie dumm sie war, wie achtlos, sie musste ihn finden, vielleicht würde dann alles wieder gut, sie hatte die Kraft, vielleicht könnte sie dem Fahrer ihr Kind entgegenhalten, schau her, und er würde erkennen, was er getan hatte und irgendein Gott würde sie heilen, würde ein einziges Mal Erbarmen haben mit ihr und mit uns und alles würde ungeschehen.
Sie würde noch einmal mit Mascha an der Kreuzung stehen. Ihr Handy würde nicht klingeln. Mascha würde weiter froh vor sich hinplappern. So behauptet es doch die Physik, das muss doch möglich sein, dass wir die Zeit überlisten, die uns all die schrecklichen Ereignisse nur vorgaukelt, die uns eine bessere Wirklichkeit verweigert.
Doch noch war es nicht so weit. Blind vor Tränen rannte und stolperte sie durch den Abendregen, ihr totes Kind im Arm, bis ein Polizeiwagen sie stoppte. Sie nahmen ihr Mascha weg und fragten nach ihrem Namen. Sie wusste ihn nicht. Eine Polizistin wollte sich als mitfühlend erweisen. „Niemanden trifft die Schuld“, sagte sie.
Wirklich nicht ?
„Doch“, sagte Saletta. „Jemand muss schuld sein. Und ich werde alles tun, um es zu beweisen.“
„Rot“, keuchte Saletta, „Mascha, rot!“
Alles um sie herum verfärbte sich, sie schwamm in einem Meer aus Blut, griff sich an den Hals, betete, ertrinken zu dürfen. Dann wieder die harte Straße, die hörte den Aufprall, fühlte ihn. Mascha lag auf dem Boden mit verrenkten Gliedern, öffnete die Augen, lachte, flog davon. „Wer hat hier wen vergiftet?“, fragte sie, als Saletta nach ihr griff.
Die stöhnte laut auf und erwachte.
Sie musste nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass sie 02:20 h anzeigte. Seit Wochen erwachte sie jede Nacht um dieselbe Zeit von diesem immer gleichen Traum. Um ihm zu entfliehen, krabbelte sie aus dem Bett, stieß dabei ein Rotweinglas um, torkelte gleichgültig weiter, der Boden war ohnehin schon voller Flecken. Ging nach nebenan in ihr Arbeitszimmer, der Computer flackerte kurz auf, der Monitor, eben noch schwarz, sprang an, gab den Blick auf den Bildschirmhintergrund frei. Mascha und sie am Werdersee, Enten füttern.
Alles musste einmal harmlos und leicht gewesen sein. Saletta spürte die Lust aufzugeben, zu weinen, bis sie sich restlos aufgelöst hätte. Aber sie war Wissenschaftlerin, ein Verstandesmensch, eine Kämpferin, ein Produkt der Vernunft und sie hatte einen Beweis zu erbringen. Diszipliniert setzte sie sich an den Schreibtisch und studierte die Notizen, an denen sie seit Maschas Beerdigung Nacht für Nacht gearbeitet hatte.
2 Mio. Amerikaner jährlich Opfer der Nebenwirkungen von Medikamenten, 100.000 sterben. Deutschland: Seit 2001 Meldeverpflichtung bei Verdacht einer übermäßigen Impfreaktion und dadurch bedingte gesundheitliche Schädigungen. In 3 Jahren 3328 Fälle angezeigt. 4% bleibende Schäden, 1,6 % verstarben. Otto-Lugenreich-Institut bewertete Zusammenhang zur Impfung in der Mehrzahl der Fälle als unwahrscheinlich. Dunkelziffer – nicht gemeldete Fälle – unbekannt. Rate der Meldungen hängt von Motivation und Fähigkeit der Ärzte ab.
Während sie das Web nach relevanten Fakten abgraste, sich Zahlenkolonnen in ihrem Hirn zu Argumenten zusammenschoben, machte sie sich nebenher Notizen über die nächsten notwendigen Schritte.
1 Gedenkseite erstellen, dokumentieren, vielleicht melden sich auch andere, denen Ähnliches passiert ist.
2 Reporter anrufen, Richtigstellung verlangen.
3 Arzt zur Meldung bewegen – vorher zuständigen Arzt bei Schulleitung erfragen.
7 Menschen in 3 Wochen nach Impfung mit Poritz verstorben. Ein Zusammenhang kann nicht hergestellt werden.
Anscheinend starben ebenso viele Menschen nach der Impfung wie durch die neue Grippe selbst. Aber ein Zusammenhang existierte nicht.
Eine 17-jährige Schülerin, die mit Poritz geimpft worden war, erleidet einen Zusammenbruch in der Schule und stirbt im Krankenhaus. Ursache waren Vorerkrankungen, kein Zusammenhang nachweisbar.
Salettas Hirn arbeitete im Akkord. Dass es zeitliche Zusammenhänge zwischen der Impfung und den Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen gab, war deutlich und niemand leugnete das. Aber es ließ sich keine lückenlose Kausalität herstellen. Damit einer der Geimpften einen schweren Schaden erlitt oder gar am Impfstoff verstarb, musste immer noch ein weiterer Faktor hinzukommen. Eine Vorerkrankung, eine allergische Reaktion, irgendein dritter Faktor, der dafür sorgte, dass die Impfung das Gegenteil von dem bewirkte, was sie leisten sollte.
Interessanterweise ließ sich dieser Gedanke aber auch umdrehen. Es gab bei denjenigen, die sich an dem neuen Grippetypus infiziert hatten und gestorben waren, keinen hundertprozentigen Nachweis, dass das Virus allein schuld war. Auch hier waren stets weitere Umstände hinzuzuziehen.
Auch Mascha war ja nicht unmittelbar an den Folgen des Impfwirkstoffes gestorben. Sie war nur so müde und unkonzentriert, dass sie falsch reagiert hatte und auf die Straße gerannt war.
Europäische Datenbank meldet erste Narkolepsiefälle infolge der Impfung. Allerdings sei nicht der Impfstoff allein wirkursächlich. Erschwerend müsse eine Entzündung oder Infektion hinzukommen.
Saletta hielt inne, markierte den Begriff Narkolepsie mit drei Ausrufezeichen. Natürlich wusste sie, dass letztlich alles ihre Schuld gewesen war. So hatte es ihr ja auch der Polizeisprecher klargemacht, als sie ihn immer wieder darauf hinwies, dass ihr Kind keinesfalls auf die Straße gelaufen sei , wie es Kinder leider häufig tun . Dass es einen Grund dafür gegeben haben musste und dass dieser Grund ihrer Ansicht nach darin bestand, dass Mascha durch die Impfung verwirrt gewesen war und schließlich einen Anfall erlitten hatte.
Warum sie ihre Tochter dann überhaupt aus dem Haus gelassen hätte, schnauzte er sie an. Und außerdem sei das ohnehin alles Quatsch mit dieser Impf-Panik. Und falls sie psychologische Betreuung bräuchte, dafür sei er nicht zuständig.
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