Als ich gerade Fotos von Conners durchsehe, ertönt Jaysons Stimme hinter mir. »Was ist denn so interessant, dass du derart gebannt auf den Bildschirm starrst?«
Erschrocken klappe ich das Notebook zu und drehe mich zu meinem Bruder um. »Mann, Jayson!« Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Ich hasse es, wenn er sich so anschleicht.
»Nicht immer so schreckhaft, Schwesterchen«, sagt er und grinst wie ein kleiner Junge, dem ein besonders toller Scherz gelungen ist – auf meine Kosten.
»Das nächste Mal ziehe ich dir das Fell über die Ohren.« Um meine Drohung zu unterstreichen, hebe ich meinen Zeigefinger in die Höhe.
»Wer ist dieser braunhaarige Sonnyboy, der dich so abgelenkt hat?« Er nickt Richtung Laptop und ein albernes Lächeln umspielt seinen Mund.
»Niemand.«
»Für einen Niemand hat er aber sehr viel deiner Aufmerksamkeit bekommen.« Er zwinkert mir zu und ich verdrehe die Augen.
»Du bist ein Idiot, Jayson.«
»Ach wirklich? Wie heißt der Typ denn? Und wo hast du ihn kennengelernt? Sieht gut aus.«
»Ich kenne ihn nicht.«
Jayson zieht die Augenbrauen zusammen und plötzlich ändert sich die Stimmung im Raum. »Warum glaube ich dir nicht?«
»Ich habe den Kerl zufällig auf Facebook gefunden und recherchiert. Aber glaub doch, was du willst.« Ich ziehe gespielt lässig die Schultern hoch.
Jayson starrt mich an, bis es mir unangenehm wird und ich aufstehen muss. Offenbar bin ich eine verdammt schlechte Lügnerin oder mein kleiner Bruder hat ein besonderes Gespür entwickelt. Früher war es einfacher, ihm Halbwahrheiten unterzujubeln.
»Du willst sein Auto klauen, stimmt’s?«, fragt er, als ich bereits an der Treppe nach oben angelangt bin. Ich bleibe stehen, drehe mich jedoch nicht um. »Stimmt’s? Du spionierst den Kerl aus, den du bald bestehlen willst.«
»Nein, so ist es nicht.« Ein kläglicher Versuch, es zu erklären, wenigstens entspricht es der Wahrheit. Ich klaue nicht Conners Autos, sondern stehle welche für ihn.
»Ich möchte, dass du damit aufhörst.«
Ich lasse den Kopf hängen. »Das kann ich nicht.«
»Im Augenblick weiß ich echt nicht, was ich von dir halten soll«, sagt Jayson und ich höre die Enttäuschung in seiner Stimme. Er klingt nach einem kleinen Jungen, der mehr von mir erwartet hat. Aber was? Dass ich alles aufgebe, was uns über Wasser hält?
»Jayson, lass mich dir ...«
»Spar dir die Mühe, Sue«, fällt er mir ins Wort. Ich drehe mich zu ihm um. Jayson steht bereits an der Haustür und hat die Hand auf den Türknauf gelegt. Sein Blick ist eine Mischung aus Frust und Wut. »Warte heute Abend nicht auf mich. Ich werde bei Jill übernachten.«
***
Die Auseinandersetzung mit Jayson zerrt an meinen Nerven und lenkt mich auch am Abend noch ab. Ich sollte mich konzentrieren, endlich diesen verflixten Mercedes hacken und dann verschwinden. Stattdessen steige ich aus meinem Auto und gehe auf den Panther zu. Ich strecke meine Hand aus und fahre leicht über die glatte Oberfläche; erkunde die lange Haube mit meinen Händen. Während ich die feinen Linien des Sterns, das Markenzeichen des Mercedes’, unter meinen Fingerspitzen fühle, kommt mir nur ein Gedanke: Der wäre wie für Kane gemacht . Er liebt schnelle Autos. Sportliche Fahrzeuge mit gewissen Extras haben es ihm immer schon angetan. Er wäre bestimmt hin und weg von diesem Wagen.
Ich gehe um das Auto herum und beuge mich nach vorn, um durch das Beifahrerfenster ins Innere zu sehen. Natürlich kann ich nichts erkennen, auch wenn eine Laterne nur wenige Meter entfernt Licht auf die Straße wirft. Außer dem Lenkrad und einem rot blinkenden Warnlicht in der Mitte des Armaturenbretts ist nichts zu erkennen.
»Sweetheart.«
Kane. Ich zucke zusammen, suche Halt am Auto, woraufhin sofort die Alarmanlage losgeht. Sie schrillt laut in die Nacht, was meinen ganzen Körper noch mehr verkrampfen lässt. Unzählige Gefühle rasen durch mich hindurch und mein Herz hämmert viel zu schnell gegen meinen Brustkorb. Ich kann kaum atmen, versuche nur, mich auf den Beinen zu halten, während plötzlich Bilder aus der Vergangenheit auf mich einprasseln.
Die Alarmanlage hat mittlerweile aufgehört zu heulen, trotzdem nimmt das Schrillen in meinem Kopf kein bisschen ab. Diese Stimme hätte ich unter tausenden wiedererkannt. Diese Stimme, die mir immer eine gewisse Geborgenheit schenkte.
Ich kann nicht glauben, dass er hinter mir steht und dennoch weiß ich, dass er genau das tut. Wie oft habe ich mir gewünscht, er würde sich melden? Inzwischen sind fast drei Jahre verstrichen, seit er weggegangen ist und mich einfach zurückgelassen hat.
Ich spüre, dass er sich nähert und bekomme Angst, von ihm berührt zu werden. Obwohl ich mir in den vergangenen fünfunddreißig Monaten nichts sehnlicher gewünscht habe, als seine Arme um mich zu spüren, mache ich vorsichtig einen Schritt nach links und gehe, ohne auch nur einmal aufzublicken, auf mein Auto zu, das in diesem Moment viel zu weit weg steht. Mein ganzer Körper zittert, meine Beine sind wie Watte, mein Herz ein einziger Scherbenhaufen. Und auch wenn ich unendlich viele Fragen habe, kann ich keine einzige stellen. Ich kann ihm nicht mal ins Gesicht blicken. Ich will nur noch weg von hier und all das Chaos in mir wieder in Ordnung bringen.
»Sue.«
Es tut weh, meinen Namen aus seinem Mund zu hören. Ich gehe schneller auf meinen Honda zu, öffne ihn mit der Fernbedienung und schlüpfe hinter das Steuer. Dann schließe ich ab und stecke mit zittrigen Händen den Schlüssel ins Zündschloss. Ohne den Kopf zu heben, drücke ich das Gaspedal durch und fliehe.
Zu Hause angekommen, erwartet mich Dunkelheit und totale Stille. Mir fällt der Streit zwischen Jayson und mir ein und dass er bei seiner Freundin übernachtet. Meine Knie geben nach und ich muss mich an der Couch abstützen. Bisher ungeweinte Tränen brennen mir in den Augen und laufen über meine Wangen.
Ich brauche einen Drink. Mit einem Glas Whisky gehe ich hoch in mein Zimmer, setze mich auf den Boden, die Bettkante in meinem Rücken und nehme einen kräftigen Schluck.
Deans Tod hat eine schreckliche Leere hinterlassen, ebenso Kanes Verschwinden. Ich habe seine ruhige Stimme vermisst, seinen Charme, seine Nähe. Unzählige Male habe ich mir gewünscht, wieder in seine Augen blicken zu können. Doch jetzt, wo ich die Gelegenheit hatte, fehlte mir der Mut.
All die Jahre glaubte ich, so etwas wie einen Pakt mit mir selbst geschlossen zu haben, um auf diese Weise meine Gefühle tief in mir zu vergraben. Allerdings brauchte es nur ein kleines Wort – eine schwach gehauchte Begrüßung, als würde er selbst nicht glauben, mich zu sehen –, um alles in mir zum Einsturz zu bringen.
Ich nehme einen weiteren Schluck, um den Schmerz nicht mehr zu fühlen, der sich in meinem Herzen ausbreitet. Er schmeckt wie Verrat.
In jener Nacht vor drei Jahren verlor ich meinen älteren Bruder. Nur Stunden nachdem ich Kane meine Unschuld geschenkt habe. Ich habe ihn in mein Herz sehen lassen, weil ich annahm, er würde genauso empfinden wie ich. Allerdings war er am nächsten Morgen nicht mehr da, obwohl er es mir versprochen hatte. Er war nicht mehr da, als ich die Nachricht bekam, dass Dean tot sei. Er kam nicht wieder, obwohl ich ihn mehr denn je gebraucht hätte. Er ist einfach verschwunden. Ohne ein Wort. Ohne eine Erklärung. Ohne auf Wiedersehen zu sagen.
Ich musste Dean mit Jayson allein begraben. Sein bester Freund hielt es nicht für nötig, sich blicken zu lassen oder Abschied von ihm zu nehmen.
Dass ich Kane noch immer über alles liebe, nach allem, was passiert ist, macht mir Angst, weshalb ich vorhin nur eins tun konnte: wegrennen.
Die Wahrheit darüber, was ihn damals fortgetrieben hat, ist vielleicht schmerzhafter, als mit einer Illusion zu leben.
Читать дальше