Es ist fast Mittag, als ich mich wieder auf den Weg nach London mache. Genau wie gestern. Zuerst mit dem Auto, dann mit der U-Bahn. Gott sei Dank hat das Café heute geöffnet. Nachdem ich bei der Bedienung ein Wasser bestellt habe, hole ich mein Notebook aus der Tasche und lege es betriebsbereit vor mir auf den kleinen runden Tisch. Ich beobachte das Haus, vor dem mein Objekt steht und wünsche mir mit jeder verstreichenden Minute, dass sich endlich der Besitzer des schwarzen Mercedes’ zeigen würde. Doch als es anfängt, zu dämmern, wurde mein Wunsch noch immer nicht erfüllt. Gleichzeitig habe ich auch keinen Erfolg, in das System des Autos einzudringen. Je mehr Technik, umso einfacher das Hacken. Doch bei diesem Fahrzeug werden meine Versuche, ins Herzstück vorzustoßen, jedes Mal zunichtegemacht. Immer wieder erhalte ich die gleiche Meldung. Immer werden dieselben fünf Buchstaben auf meinem Bildschirm angezeigt: Error .
Es ist frustrierend und enttäuschend. Darum ist es besser, für heute Schluss zu machen.
Jill und Jayson lachen gerade über etwas, als ich durch die Tür trete und mir wird schlagartig warm ums Herz. Viel zu lang ist es her, dass dieses Haus mit Lebensfreude und Heiterkeit gefüllt wurde. Ich lehne mich an den Türrahmen und beobachte die beiden, wie sie zusammen auf dem Sofa sitzen und sich einen Film ansehen. Eng aneinandergeschmiegt. Jayson fährt immer wieder durch ihr Haar, während sie eine Hand auf seinem Oberkörper liegen hat.
Es macht mich glücklich, ihn so zu sehen. Mein kleiner Bruder wird sein Leben richtig leben. Dafür werde ich sorgen.
»Willst du dich nicht zu uns setzen?« Jill reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich lächle ihr zu. »Ich möchte euch nicht stören«, sage ich und will mich bereits abwenden.
»Das tust du nicht«, meint Jayson. »Komm.« Er winkt mich mit einer Hand zu sich. »Wir sehen uns gerade Hangover an.«
»Na gut.« Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt einen Film mit meinem Bruder angesehen habe. Obendrein ist es eine gute Ablenkung von meiner Arbeit. Ich lasse mich auf dem übergroßen Sessel nieder, der neben der Couch steht, und ziehe meine Beine an. Nach einer guten Stunde ist der Streifen zu Ende.
»Übernachtest du heute hier?«, frage ich Jill, als Jayson auf der Toilette verschwindet.
»Wenn es dir nichts ausmacht?«
»Natürlich nicht. Wenn deine Eltern wissen, wo du bist.«
Jills Augen fangen an zu leuchten. »Sie mögen ihn. Meine Eltern wissen, was er, was ihr«, korrigiert sie sich schnell, »durchgemacht habt.«
»Er ist ein guter Junge.«
»Ja, das ist er.« Ihre Stimme ist voller Liebe.
»Wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Er ist mir vor Monaten schon aufgefallen. Aber er hat sich immer mit seinen Rugbykollegen abgegeben.« Jill hält ihren Kopf gesenkt und pult an ihren Fingernägeln herum. »Irgendwann habe ich ihn nach dem Training angesprochen und auf einen Kaffee eingeladen, obwohl ich Angst vor einer Abfuhr hatte.« Sie fängt an zu lächeln. »Damals wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Es hat ewig gedauert, bis er mir eine Antwort gab. Ich dachte, er würde sich Worte zurechtlegen, wie er mir schonend einen Korb geben könnte. Doch dann sagte er: Nur, wenn ich zahlen darf. Von da an haben wir uns jeden Tag verabredet. Wir verstehen uns wirklich gut und brauchen nicht zu überlegen, was wir dem anderen sagen können oder wollen, wir erzählen einfach das, was uns gerade durch den Kopf geht oder bedrückt. Ich fühle mich wohl bei ihm. Er ist einzigartig.«
»Redet ihr auch über die Vergangenheit? Über seine Vergangenheit?«, frage ich vorsichtig.
»Ja. Ich denke, es tut ihm gut, darüber zu reden.«
Ich nicke ein paar Mal und frage mich, was er wohl alles über mich erzählt hat.
»Er hat nur Gutes über dich gesagt, falls du das eben überlegt hast. Du bist seine Schwester, seine Familie und ich hoffe, ich werde irgendwann mal dazugehören.«
»Ich bin unheimlich froh, dass er dich hat«, sage ich gerührt, denn ich habe vor langer Zeit aufgehört, zu hoffen, dass jemand zu uns gehören möchte.
Im nächsten Augenblick kommt Jayson zurück. »Wollen wir ins Bett?«, höre ich ihn hinter mir fragen.
Sie steht auf und geht zu ihm. »Gute Nacht, Sue.«
Ich sehe über die Schulter zurück. »Schlaft gut.«
»Du auch, Schwesterherz.«
***
Heute ist bereits der dritte Tag, an dem ich den schwarzen Sportwagen in der Abingdon Villas und dessen Besitzer observieren gehe. Geduld gehört nicht zu meinen Stärken, weswegen etwas passieren muss. Entweder ich knacke den Roadster oder der Eigentümer zeigt sich endlich mal.
Seit über zwei Stunden sitze ich bereits in meinem Honda. Dieses Mal bin ich mit meinem Wagen in die Stadt gefahren, weil es für diese Jahreszeit außergewöhnlich kalt ist und wie aus Kübeln schüttet.
Gerade will ich meinen Laptop aufklappen, da blinken Lichter auf und ein Mann öffnet die Tür des Mercedes’, bevor er sich hinter das Steuer setzt. Gleich darauf lässt er den Motor dröhnen und lenkt das Fahrzeug aus der Parklücke. Hastig lege ich das Notebook zur Seite und starte mein Auto. In sicherem Abstand fahre ich ihm hinterher. Nach einer fünfzehnminütigen Fahrt rollt er in ein Parkhaus, das sich unter einem großen Glasgebäude befindet. Kurz entschlossen biege ich ab und folge ihm. Ich sehe gerade noch seine Rücklichter, als er ein weiteres Stockwerk hinunterfährt. Vorsichtig lenke ich den Wagen die Rampe hinab, immer darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden.
Als ich auf der vorletzten Ebene ankomme, parkt er gerade ein und ich tue es ihm gleich. Er steigt aus und geht zu den Aufzügen. Seine Schritte wirken selbstsicher und schneidig. Sein perfekt sitzender dunkelgrauer Anzug umschmeichelt seinen Körper. Er ist gut gebaut und mindestens einen Kopf größer als ich. Seine Haare sind kurz und mit Gel gestylt. Auch wenn ich sein Gesicht nicht sehe, strahlt er eine enorme Autorität aus, was irgendwie sexy und anziehend auf mich wirkt.
Ich beobachte ihn dabei, wie er auf den Knopf drückt und wartet. Dabei schlägt mein Herz, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Ich verdrehe über meine merkwürdige Reaktion die Augen und bleibe im Auto sitzen, wo ich darauf warten werde, dass der Mann zurückkehrt.
Wie ich mir eben bewusst werde, bin ich nicht nur hier, um Mister X’ Tagesablauf herauszufinden, ich möchte auch einen erneuten Blick auf ihn werfen. Warum, kann ich nicht sagen. Irgendetwas hat dieser Kerl an sich, das mich fasziniert.
Menschen kommen und gehen. Nur nicht die Person, die ich gern sehen würde. Ich habe den Laptop auf meinem Schoß. Hochgefahren und startbereit. Meine Finger liegen über der Tastatur, wie auch siebenmal davor. Immer wieder kostet es mich große Überwindung, den Rechner zur Seite zu legen. Es wäre dumm und hirnrissig, in einem bewachten Parkhaus ein Auto zu knacken. Wie ich bereits beim Einfahren bemerkt habe, sind in dieser Tiefgarage überall Kameras angebracht. Man könnte meine Spur zu leicht nachverfolgen. Aber mir wird langsam langweilig. Ich bin so nah dran, meine Beherrschung zu verlieren. Ich kann kaum mehr still sitzen und mir ist ...
Er kommt zurück. Ich spüre es, noch ehe ich ihn im Fahrstuhl stehen sehe. Doch auch dieses Mal bleibt mir sein Gesicht verborgen. Er hält ein Handy ans Ohr gedrückt und sieht zu Boden, bis er seinen Wagen erreicht. Verdammt!
Ich warte, bis er ausgeparkt hat und die Rampe nach oben fährt. Wieder folge ich ihm in sicherem Abstand, wie es aussieht, zurück in die Abingdon Villas. Nach einer weiteren erfolglosen Stunde in meinem Auto nehme ich schließlich die kürzeste Route nach Hause. Für heute habe ich ohne Zweifel genug von der Warterei und meiner Erfolglosigkeit.
Es brennt Licht in der Küche und mit einem Mal habe ich unglaublichen Hunger. Den ganzen Tag über hatte ich bloß ein belegtes Brot, was auch ausgereicht hat. Bis jetzt.
Читать дальше