Bei meiner Schwester erkundigte ich mich, worüber sich Mädchen unterhalten. Dann schlug ich Evelyn Themen vor: Puppen, Schlagersänger, Mode. Nichts verfing. Ich unterbreitete ihr Angebote, brachte zum Beispiel einen Ball mit: „Wollen wir Ball spielen?“ „Ball spielen ist doof!“ „Kommst du mit ins Wasser?“ „Ich gehe nicht ins Wasser“. Sie ging tatsächlich nie ins Wasser. Nur bis zum Bauch schlug ich ihr vor, nur bis zu den Knien, nur die Füße ins Wasser setzen. Alle meine Vorschläge wurden abgewiesen. Schließlich saßen wir nur noch schweigend nebeneinander. Das fand sie ganz in Ordnung. Wenn ich zwischendurch schwimmen gegangen war, aus dem Wasser zurückkam und mich mit der nassen Badehose auf mein Handtuch setzte, schimpfte sie mit mir, das sei ungesund. Ich müsse die Badehose wechseln und eine trockene anziehen. Das tat ich nun gerade nicht. Sich von diesem Mädchen auch noch herumkommandieren zu lassen, das kam nicht in Frage.
Als es mir langweilig wurde, nur herumzusitzen, begann ich, Bücher mitzubringen und neben ihr sitzend zu lesen. Sie interessierte sich für meine Lektüre scheinbar nicht. Kaum war ich aber im Wasser, blätterte sie gleich verstohlen in meinem Buch, gab dies aber hinterher nicht zu. Selber lesen wollte sie nicht im Gegensatz zu ihrer Schwester, die eine richtige Leseratte war. „Ich höre lieber Musik“, kommentierte Evelyn.
Gelegentlich erinnerte ich sie an unser Kennenlernen: „Wenn du mich später einmal heiratest, fändest du es nicht besser, wenn wir vorher anfangen miteinander reden?“ „Ich muss dich zwar heiraten, aber reden muss ich mit dir deshalb noch lange nicht“, bekam ich zur Antwort. Ich erzählte ihr schließlich: „Es gibt übrigens noch ein Mädchen, das mich heiraten will“, und berichtete ihr von der Vierjährigen und ihrem Bruder. Sie glaubte mir die Geschichte natürlich nicht und wollte die Kleine sehen und mit ihr sprechen. Dazu kam es schließlich auch, aber es dauerte ein paar Tage, denn der Vater des Mädchens besuchte den Schwimmverein mit seinen Kindern nur unregelmäßig. Fast hatte ich die Angelegenheit schon abgetan, als ich das kleine Mädchen eines Abends doch beim Spielen entdeckte. Und tatsächlich, auf Evelyns entsprechende Frage nannte die Kleine mich ihren zukünftigen Mann. Als Evelyn sie in harschen Ton aufforderte, sich solchen Unsinn aus dem Kopf zu schlagen, fing sie an zu weinen und drohte, ihren Vater zu rufen. Rasch zog ich Evelyn, die sich heftig aufregte, weg, bevor die Kleine ihre Drohung wahrmachen konnte.
Der Grund, warum Evelyn das Wasser mied, war eine angeblich nicht überwindbare Angst. Sie behauptete, in der Nähe von Wasser einen Sog zu verspüren, der sie in die Tiefe ziehen wollte. „Und Schwimmen kann ich sowieso nicht“, sagte sie. Ich fragte sie, wie es denn zu Hause beim Baden in der Badewanne wäre, sie bade doch sicher regelmäßig. „Da habe ich meine Schwimmente, die beschützt mich,“ war die Antwort. Daraufhin schlug ich ihr vor, sie solle die Gummiente mitbringen, aber das wollte sie doch nicht. Also nahm ich von zu Hause die gelbe Badewannenente meiner Schwester mit. Damit brachte ich Evelyn immerhin dazu, mich einmal ans Ufer zu begleiten, wo ich die Ente umständlich ins Wasser setzte, aber diese Ente hatte keine Wirkung auf Evelyns angebliche Wasserphobie.
Daraufhin befragte ich Evelyns Schwester, was es mit dieser Phobie denn auf sich habe, und ob nicht sie ihrer kleinen Schwester die Grundlagen des Schwimmens beibringen könne. Die Schwester, Claudia, erklärte mir kühl, ich solle sie doch bitte aus dem Spiel lassen. Mit Evelyn müsse ich schon selber zurechtkommen. Also brachte ich als nächsten Versuch meinen Schwimmgürtel mit in den Schwimmverein. Mit diesem Gummigürtel zum Aufblasen und Umschnallen, hatte ich mir -mit etwas Nachhilfe von meinem Vater- selber das Brustschwimmen beigebracht. Ich erklärte Evelyn, wie man den Gürtel aufzublasen hatte und anlegte und versprach ihr, sie zusätzlich zu stützen, Sie sollte sich im Wasser bäuchlings auf meine ausgestreckten Arme legen. Sie lehnte ab. Eine Weile versuchte ich, sie umzustimmen. Die Vorstellung, ihren Bauch zu umfassen, wurde fast zu einer fixen Idee. Schließlich drehte ich den Spieß um und erklärte ihr, ich könne noch nicht wirklich gut schwimmen, und sie könne mich stützen, indem sie ihre Arme unter meinen Bauch schob. Auch diese Vorstellung, ihre Hände auf meinem Bauch, erschien mir zunehmend reizvoll.
Nachdem es mir partout nicht gelang, mit Evelyn ernsthaft ins Gespräch zu kommen, beschloss ich eines Tages, die Zeit, die ich schweigend neben ihr zu sitzen pflegte, besser zu nutzen, und brachte Schulbücher und Hausaufgaben mit. Sie war sofort interessiert und wollte ganz genau wissen, was ich da machte und lernte. Sie versuchte dann, mitzulernen oder an meinem Lernen teilzuhaben, indem sie mich abhörte oder mich aus meinen Schulbüchern vorlesen ließ. Bald brachte sie ihre eigenen Hausaufgaben mit, ließ sich von mir Aufgaben erklären und korrigieren. Jetzt war ich an der Reihe, sie abzuhören. Die gemeinsame Schularbeit machte bald richtig Spaß. Der Bann war gebrochen. Jetzt redeten wir miteinander.
Für einen der Sonntage in diesem Sommer planten meine Eltern, im Hunsrück zu wandern und bestanden darauf, dass ich mitkäme. Am Tag vorher erklärte ich Evelyn, dass und warum ich an diesem Sonntag nicht in den Schwimmverein kommen könne. Sie hatte volles Verständnis dafür, dass ich dem Wunsch meiner Eltern Folge leistete. Am Sonntag, trotz besonders schönen Wetters, verschliefen meine Eltern jedoch und beschlossen dann kurzfristig, sich zu Hause zu erholen. Ich durfte alleine zum Langen See radeln. Angekommen hielt ich vor den Umkleideräumen inne und blickte über die Büsche am Hang hinunter zum Strand, um Evelyn und ihre Familie zu orten. Der Strand war noch halbleer. Evelyns Familie war schon eingetroffen. Vater, Mutter und ältere Schwester spielten Ringe werfen. Von Evelyn war nichts zu sehen. Schließlich entdeckte ich sie im Wasser, draußen im See, wo man längst nicht mehr stehen konnte. Sie schwamm, genauer gesagt, sie kraulte, und das ziemlich gut, besser jedenfalls als ich es konnte, und ziemlich ausdauernd. Ich hielt mich hinter den Büschen verborgen und beobachtete sie fasziniert. Zwar hatte ich ihr ihre Wasserphobie nicht abgenommen, aber dass sie so gut schwimmen konnte, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wartete, bis sie wieder an Land kam, aus ihrer Badetasche einen trockenen Badeanzug entnahm und in Richtung der Damenumkleide ging. Dann begab ich mich rasch in die Herrenumkleide und zog mich um. Ich wartete noch ein paar Minuten ab, bevor ich zum Strand lief und Evelyn begrüßte. Einmal mehr forderte ich sie auf, mit ins Wasser zu kommen, einmal mehr lehnte sie ab. Also ging ich wie gewohnt alleine schwimmen, und blieb diesmal besonders lange im Wasser, pries ihr anschließend das Schwimmen an, sie wisse ja gar nicht, was sie versäume. Es sei schön, dass ich das Schwimmen mochte, aber für sie sei das nichts, sie sei ja schließlich auch ein Mädchen, gab sie zur Antwort. „Aber deine Schwester schwimmt doch sehr gern“, warf ich ein. „Ach die versucht in allem wie ein Junge zu sein“.
Einmal hatte ich eine Hausaufgabe, die sich auf eines von Grimms Märchen bezog. Ob sie dieses Märchen kenne, fragte ich Evelyn. Sie verneinte: „Ich lese keine Märchenbücher, die sind nur für Kleinkinder.“ Ich forschte weiter, ob sie denn überhaupt Märchen kenne. „Nö, kein einziges“, sagte sie und behauptete im gleichen Atemzug, nie hätte ihr jemand vorgelesen, als sie noch klein war. Also las ich ihr Frau Holle vor, und sie fand das Märchen doch ganz interessant und erlaubte großzügig, dass ich noch weitere Märchen vorlas. Es dauerte nicht lange, bis sie mir vorschlug, ihr Märchen nicht vorzulesen, sondern aus dem Gedächtnis zu erzählen, das sei doch viel schöner. So wurde ich zum Märchenerzähler. Einmal änderte ich die Handlung ein wenig ab. Evelyn korrigierte mich sofort. Das Gleiche passierte auch bei anderen Märchen, und es wurde schnell klar, sie kannte die Geschichten, die ich ihr erzählte, schon längst. Wieder hatte sie mir aus unerfindlichen Gründen etwas vorgemacht.
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