Verstohlen blickte ich mich um. Mutter und Schwester schienen sich nicht weiter um mich zu kümmern. Meinen Vater konnte ich nicht sehen, auch niemanden, der ihr Vater sein konnte. Dieser unsichtbare Vater, von dessen Nähe ich überzeugt war, beunruhigte mich jetzt einigermaßen. Ich konnte mir die Familie nicht ohne Vater vorstellen. Und der musste irgendwo in der Nähe sein. Wenn auch die Mutter einverstanden war, dass ich ihre Tochter küsste, dem Vater musste das noch lange nicht recht sein. Ich war bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen, sollte der Vater auftauchen. Während ich mich noch unauffällig umschaute und dabei feststellte, dass die Küsserei jedenfalls keinen öffentlichen Skandal ausgelöst hatte, legte das Mädchen, das mich gerade geküsst hatte, eine Hand auf meinen Arm und sagte: „Lass mich jetzt bitte allein. Ich muss nachdenken.“ „Worüber denn?“, fragte ich ohne zu überlegen. „Darüber, was ich mit dir anfangen soll.“ „Du könntest zum Beispiel mit mir reden“, schlug ich vor. „So einfach ist das nicht“, erwiderte sie, „geh jetzt bitte!“ „Wenn du das möchtest“, murmelte ich, stand widerstrebend auf, wobei ich mich gleichzeitig irgendwie erleichtert fühlte, bedankte mich noch mit einem Nicken bei der Mutter und ging zurück zu meinem Vater. Um nicht mit ihm sprechen zu müssen, versteckte ich mich außer Sichtweite, um nachzudenken.
Ich hatte es getan. Ich hatte sie geküsst. Das gab mir ein gutes Gefühl. Und sie gefiel mir. Aus der Nähe hatte sie mir sogar sehr gut gefallen. Sie hatte blaue Augen, die in einer Weise aufblitzen konnten, die mir bei anderen Mädchen noch nicht aufgefallen war. Sie war kein bisschen verlegen. Und langweilig, wie ich Mädchen ihres Alters eigentlich einschätzte, war sie bestimmt nicht. Sie hatte, soviel war klar, ihren eigenen Kopf, und sie hatte mich, unfassbar aber wahr, richtig geküsst. Das war völlig unerwartet gekommen, und ich konnte mir darauf keinen Reim bilden. Vielleicht wollte sie sich ja doch nur über mich lustig machen, aber in ihrem Kuss hatte nichts Kokettes gelegen. Sie hatte ernsthaft geschaut, was immer dies auch bedeuten mochte. Dann hatte sie mich allerdings gleich weggeschickt, und was sollte ich nun wiederum davon halten?
Ich ging wieder zu der Stelle mit den Sitzbänken, wo das kleine Mädchen mit den Zöpfen und ihr Bruder immer noch spielten. Das Mädchen versuchte, den Bruder zu überreden, mit ihr Hochzeit zu spielen. Das anschließende Festmahl hatte sie mit Hilfe von feuchtem Sand und Förmchen schon vorbereitet. Sie wollte die Braut sein, der Bruder sollte den Bräutigam und zugleich den Priester vorstellen. Mit dieser Doppelrolle war der Kleine sichtlich überfordert. Außerdem gefiel ihm das ganze Spiel nicht. Ich setzte mich in die Nähe und beobachtete die beiden. Die Kleine bemerkte mich, kam auf mich zu und forderte mich auf, die Rolle des Priesters zu übernehmen. Sie bat mich nicht etwa, sie forderte es. Ich willigte ein teils aus Überraschung, teils aus Neugier. Ich wollte beobachten, wie sie sich, die einen ausgeprägten Willen zu besitzen schien, anstellen würde. Die beiden Kinder stellten sich vor mir auf, hielten sich bei der Hand. Als die Braut sich anschickte, ihr Jawort zu geben, und ich meine Hand auf die verschränkten Hände der beiden Kinder segnend legte, riss sich ihr Bruder los. So kam es, dass ich nur ihre Hand in meiner hielt, als sie „ja“ sagte. Ihr Bruder war jedoch schnell wieder eingefangen. Jetzt wollte die Braut noch einen Kuss von ihm haben. Er wollte das gar nicht. „Halt ihn fest“, sagte die Kleine. „Stell dich nicht so an“, sagte ich zu ihrem Bruder. Nachdem der sich nicht überreden ließ, seine Schwester zu küssen, entschied diese, dass sie stattdessen ihn küssen werde. „Halt ihn gut fest“, sagte sie an mich gerichtet. Ich versuchte, den Kleinen zu halten, ohne ihm Zwang anzutun. Als sich ihr Mund seinem näherte, riss der Kleine sich los und ließ sich zu Boden fallen. Ich stolperte, und die Lippen des Mädchens trafen meinen Mund anstatt den Mund ihres Bruders. „Jetzt bist du mit mir verheiratet“, lachte sie mich an und strahlte. „Quatsch, das war nur ein Versehen“, erwiderte ich. „Das war kein Versehen“, antwortete sie trotzig, „du bist jetzt mein Bräutigam.“ Ich versuchte, ihr das auszureden, ohne rechten Erfolg. Dann zog ich es vor, mich aus dem Staube zu machen, bevor ihr Vater oder ihre Mutter womöglich noch mitbekamen, was sich hier abspielte. Ich war erschüttert. Vor wenigen Wochen hatte mir eine Stimme, von der mir nicht klar war, ob sie einer höheren Macht, meinem Vater oder purer Einbildung entsprang, vorhergesagt, dass dieses Mädchen mir als Frau bestimmt sei, womit ich überhaupt nicht einverstanden war, da sie viel zu jung für mich war, und jetzt betrachtete sie mich ihrerseits schon als Bräutigam.
Ich kehrte ziemlich belämmert zu meinem Vater zurück und erzählte ihm stockend, was vorgefallen war, wobei ich immer wieder zur Seite schielte auf das blonde Mädchen, das mich ungeniert und entweder spöttisch oder herablassend anschaute. Klar deuten konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht. Es wandte den Blick sofort ab, wenn ich den Kopf in seine Richtung bewegte. Mein Vater war amüsiert. „Jetzt hast du also zwei Frauen am Hals“, sagte er gut gelaunt. „Kommst du damit klar?“ „Ich glaube nicht“, antwortete ich. „Sieh es mal von der Seite“, fuhr mein Vater fort, „wenn du dich mit einer verkrachst, hast du immer noch die andere in petto.“ „Was soll ich mit einem kleinen Kind anfangen?“ maulte ich. „Sie wird jeden Tag älter“, sagte mein Vater ungerührt „und außerdem ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass du von den Frauen vorläufig überhaupt noch die Finger lassen solltest.“ Ich schüttelte bockig den Kopf. Auf die Blonde wollte ich nicht verzichten. „Na, du hast jetzt jedenfalls gelernt, dass man mit Frauen sehr vorsichtig sein muss. Ehe du dich versiehst, haben sie dich schon am Wickel.“ „Mich hat niemand am Wickel“, protestierte ich schwach. „Na, vielleicht bist du ja jemand, der zwei Frauen aushalten kann.“ „Meinst du, so was ist möglich?“ fragte ich. „Vieles ist möglich“, erwiderte mein Vater vage und damit war die Diskussion beendet. Er schlug vor, jetzt endlich aufzubrechen. Ich wehrte den Vorstoß ab und erklärte, ich könne auf gar keinen Fall vor dem blonden Mädchen nach Hause gehen. „Na gut, dann warten wir noch ein bisschen“, willigte mein Vater ein. Ich legte mich wieder auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Hatte ich nicht tatsächlich zwei Gefährtinnen haben wollen, eine Blonde, die meiner Mutter ähnlich sein sollte, für die nahe Zukunft und eine Brünette, die meiner Lieblingstante ähneln sollte, für später? Hieß das etwa, ich müsste dann die erste aufgeben? Das schien mir unfair, das wollte ich nicht, und ehe ich mich versah, war ich wieder eingenickt.
Ich wachte auf, als mein Vater mir einen Stups versetzte. „Wir können jetzt nach Hause“, sagte er, „deine Freundin ist gegangen.“ Ich war entsetzt. Ich wusste ja gar nichts über das Mädchen. „Kennst du die Familie?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Keine Ahnung“, erwiderte mein Vater. Ob das nun stimmte oder nicht, wie sollte ich sie wiedersehen, wenn ich nicht mal wusste, wie sie hieß. „Sie sind vielleicht noch in den Umkleidekabinen“, rief ich. „Ich gehe nachschauen“. Als ich mich rasch erhob, sah ich die ganze Familie, diesmal mit Vater, der voranging. Sie gingen entlang der Kabinen für Männer in Richtung Ausgang. Meine Wunschfreundin wandte den Kopf in meine Richtung. Ich glaubte, ihr Gesicht ganz deutlich sehen zu können, obwohl es schon dämmerte. Ihr Gesicht, und nur ihr Gesicht, niemandes sonst, schien von der untergehenden Sonne hell erleuchtet, oder es leuchtete aus sich heraus. Wie konnte das sein? In diesem Augenblick traf es mich wie ein Schlag zwischen die Schulterblätter. Das war sie, das war das Mädchen meiner Träume. Von diesem Augenblick an war ich in sie verliebt, ohne es zu wissen. Was ich ohne jeden Zweifel wusste, war: Sie ist die Richtige. Ich rannte los, ich musste sie, bevor sie das Bad verließ, nach ihrem Namen fragen. Nahe dem Ausgang holte ich sie ein. Sie stand in der Nähe ihres Vaters, der mit dem Bademeister redete. Mutter und ältere Schwester waren nicht zu sehen, vielleicht waren sie weitergegangen zu den Umkleidekabinen für Damen, rechts neben dem Ausgang.
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