Ich setzte mich wieder auf die Decke und überlegte krampfhaft, wie ich sie ansprechen könnte. Leider fiel mir überhaupt nichts ein, jedenfalls traute ich mich nicht. Mein Vater sagte: „Nun mach schon und rede mir ihr“. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, erwiderte ich flüsternd.“ „Sag ihr einfach, dass sie dir gefällt und dass du sie gern kennenlernen möchtest“. „Das kann ich nicht, das hört sich doof an.“ „Dann gib ihr eben einfach einen Kuss. Dann brauchst du gar nichts zu sagen“, schlug mein Vater vor, diesmal schon etwas lauter. Ich hatte Angst, das Mädchen könne die Unterhaltung mithören und bat ihn, doch bitte leiser zu sprechen. Plötzlich drehte sich das Mädchen halb um und sah mich von der Seite an. Ich vermochte den Blick nicht zu deuten, aber er lähmte mich. Mein Vater stand auf und sagte: „Vielleicht lasse ich dich jetzt besser allein.“ Um dem Blick des Mädchens auszuweichen und um mich zu beruhigen, mein Herz pochte und meine Kehle war wie zugeschnürt, legte ich mich wieder auf den Rücken, schloss die Augen, und stellte mir in den unterschiedlichsten Varianten vor, wie ich die Unbekannte anreden würde. Erst als ich spürte, dass mein Vater sich wieder neben mich setzte, machte ich die Augen auf.
Das Mädchen war verschwunden. Ich war maßlos enttäuscht und schimpfte mit meinem Vater: „Du hättest mir Bescheid geben müssen, als du gemerkt hast, dass sie geht. Jetzt werde ich sie nie wiedersehen.“ Mein Vater lachte: „Guck dich mal richtig um.“ Das tat ich. Das Mädchen war nicht nach Hause gegangen. Es saß jetzt vielmehr zusammen mit einer Frau, die seine Mutter sein musste, und einem zweiten Mädchen, das in einem Buch las, offenbar eine Schwester, vielleicht zwanzig Meter entfernt zu meiner Linken. „Jetzt kann ich sie nicht mehr ansprechen, so etwas Blödes“, ärgerte ich mich. Wie konnte ich bloß die Gelegenheit verstreichen lassen. „Du musst nur einfach hingehen, und wenn du dich nicht traust wegen der Mutter, dann mach zuerst der ein Kompliment und frag sie einfach, ob du mit ihren Töchtern sprechen kannst. „Das kann ich doch nicht machen.“ „Pass auf“, sagte mein Vater, jetzt klang er schon leicht verärgert, „ich gehe jetzt hin, gebe deiner kleinen Freundin einen Kuss in deinem Namen und sage ihr, dass du sie kennenlernen möchtest. Sie hat dann bestimmt nichts dagegen.“ „Du spinnst wohl“, erwiderte ich entsetzt, du kannst doch nicht einfach ein Mädchen küssen. Da bekämen wir ja richtig Ärger.“ „Das glaube ich zwar nicht“, meinte mein Vater leichthin: „ich werde aber folgendes machen, wenn es dir recht ist. Ich gebe der Mutter einen Kuss und lege bei ihr ein gutes Wort für dich ein. Dann gehst du hin, küsst die Tochter, und dann können wir endlich nach Hause fahren. Wenn du es übrigens besonders galant machen willst, führst du dich erst bei der Mutter ein. Also bringen wir es hinter uns, sonst bekommen wir heute nichts mehr zum Abendessen.“ „Das kannst du doch nicht machen,“ rief ich verzweifelt.“ Heute war meinem Vater alles zu zutrauen, davon war ich nach allem, was schon vorgefallen war, überzeugt. „Der Ehemann dieser Frau ist sicher auch in der Nähe, das gibt am Ende noch eine Auseinandersetzung. Der Mann wird sich das doch nicht gefallen lassen, wenn du einfach seine Frau küsst.“ „Das lass mal meine Sorge sein. Mit dem werde ich schon fertig,“ erwiderte mein Vater und marschierte los.
Ich blieb sitzen und dachte bei mir: „Er wird es doch auf keinen Fall tun. Er wird doch unmöglich einer anderen Frau als meiner Mutter einen Kuss geben. Das kann er doch nicht tun. Er will sich nur einen Scherz mit mir machen. Das ganze Gerede vom Küssen ist nur ein alberner Jux, auf den ich nicht hereinzufallen brauche“. Aber mein Vater sprach die fremde Frau tatsächlich an, ja er scherzte mit ihr, wobei er ein-, zweimal zu mir herübersah. „Sie machen sich jetzt auch noch lustig über mich. Das ist die Höhe.“, dachte ich verbittert. „Jetzt stehe ich völlig blamiert da.“ Ich wollte mich schon abwenden, zumal mir war, als ob das Mädchen mich jetzt angrinste. Auch die Schwester hob den Kopf aus ihrem Buch und schien missbilligend in meine Richtung zu schauen. Da nahm mein Vater die fremde Frau in den Arm, flüsterte ihr etwas ins Ohr und küsste sie auf den Mund. Und die Frau ließ es sich gefallen. Ich glaubte zu träumen, rieb mir die Augen. Das bildete ich mir doch alles nur ein. Aber die Frau erwiderte den Kuss sogar und lachte dabei. Dann flüsterten sie noch miteinander, bevor mein Vater sie losließ und zu mir zurückkam.
„Jetzt bist du dran“, sagte er knapp. „Die Mutter ist einverstanden. Los jetzt gib deinem Herzen einen Stoß. Heute ist mein Glückstag, und ich gebe dir von meinem Glück ein Stück ab. Du hast nichts zu befürchten. Heute kann nichts schiefgehen. Mach der Mutter ein Kompliment und dann küss die Kleine oder sprich mit ihr. Sie scheint ja wirklich nett zu sein.“ Das Mädchen schaute mich weiter an, so kam es mir jedenfalls vor. Lachte es mich aus? Wenn ich jetzt nicht meinen Mut zusammennahm, würde ich als Feigling dastehen. Langsam und ganz unerwartet spürte ich eine unbekannte Kühnheit in mir hochsteigen. Ich fühlte mich leicht, und ich stand auf wie in Trance und ging erhobenen Hauptes zu der Familie hinüber. Ich blickte nicht auf das Mädchen, sondern nur auf die Mutter.
Ich musste um die beiden Mädchen herumgehen, bevor ich mich zu ihrer Mutter beugen konnte, die sich wieder hingesetzt hatte. „Sie haben hübsche, und sicher auch sehr nette Töchter“, hörte ich mich reden und fuhr gleich fort: „Wenn sie älter werden, werden sie sicherlich noch viel schöner. Denn sie gehen bestimmt nach Ihnen.“ „Du bist ja ein richtiger kleiner Kavalier“, antwortete diese. „Das hast du wohl von deinem Vater. Möchtest du mir auch einen Kuss geben?“ „Sehr gern“, sagte ich, und küsste sie schnell ganz leicht auf die Wange. „Dein Vater hat dir ja wirklich schon allerhand beigebracht“, lachte die Frau, und ich flüsterte ihr schnell ins Ohr: „Ich möchte gern ihre jüngere Tochter kennenlernen.“ „Oh, wenn du magst, dann küss ruhig beide“, lachte die Frau. „Lass mich aus dem Spiel“, warf die ältere Tochter ein -ich hielt sie für ein oder zwei Jahre älter als ich selber war- ohne den Kopf aus ihrem Buch zu heben. „Ich glaube, vom Alter passt die jüngere besser zu mir“, sagte ich. Und dann ging ich zu dieser, setzte mich vor ihr in den Sand und schaute sie an. „Ich heiße Robert“, sprach ich sie an, „ich möchte dich gerne kennenlernen.“ Sie sagte gar nichts, sondern schaute mich erst ernsthaft an, dann hielt sie mir eine Wange hin. Als ich mich ihr vorsichtig näherte, bog sie ihren Hals jedoch rasch zurück, so dass mein Mund ihre Wange nicht mehr erreichen konnte. Nachdem sie meine Verblüffung ausgekostet hatte, hielt sie mir die andere Wange vors Gesicht. Bevor ich jedoch einen Kuss platzieren konnte, das gleiche Spiel. „Es wäre einfacher, wenn du einen Moment stillhalten würdest“, flüsterte ich. „Du musst es richtig machen“, flüsterte sie zurück, “stell dich nicht so an!“ Und als ich sie verständnislos anschaute, fügte sie hinzu. „Du musst mich halten. Und blamier mich jetzt bloß nicht.“ Instinktiv legte ich einen Arm halb um sie, den Rest der Welt hatte ich in der Zwischenzeit vergessen, legte die freie Hand um ihren Hals und zog sie vorsichtig zu mir. Sie hielt die Augen geschlossen, und ich berührte mit meinen Lippen ganz vorsichtig ihren Mund. Als ich sie losließ und sie die Augen wieder aufmachte, schaute sie mich einen Moment verträumt an, so kam es mir jedenfalls vor, dann schlang sie blitzschnell die Arme um meinen Nacken und drückte ihre Lippen auf meine, deutlich fester und länger, als ich es umgekehrt getan hatte. „Vielen Dank“, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein, und sie sagte jetzt auch nichts mehr.
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