Einige, die ihre Geschichte bei mir loswerden wollten, wies ich ab, da sie keine Akten vorweisen konnten. Manchmal gab mir dabei ein Gefühl ein, daß meine Maßstäbe zu streng seien – gleichwohl blieb ich dabei: keine Geschichte ohne Akte.
Ich hatte anfangs Furcht vor früheren Stasileuten, die mir vielleicht einen Bären aufbinden würden, um meine Arbeit zu entwerten. Diese Furcht erwies sich als unbegründet, obwohl Mitglieder einer Organisation früherer Justizangestellter und hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter einmal mit einer solchen „Zersetzungsmaßnahme“ drohten. Und doch – wie sollte ich auf der Basis oft wirr und unter starken Emotionen vorgetragener Geschichten beurteilen, ob mir, wenn schon kein früherer Stasimann, so doch ein schräger Vogel einen Bären aufbindet, um sich interessant zu machen? Sozialpsychologisch sicher ein interessantes Thema, für einen Journalisten allerdings eine Katastrophe.
Einige Opfer wünschten, daß ihre Namen in der Zeitung abgekürzt erschienen. Einige mochten nicht zu sehr in der Öffentlichkeit exponiert werden, einige hatten noch immer Furcht vor dem Zorn der Täter. Dabei hatte ich mit allen meinen Gesprächspartnern die Übereinkunft getroffen, daß ich die Zeitung nicht zur Hatz auf Täter mißbrauchen würde. Die Identität aller in der Serie – und damit auch in diesem Buch – genannten hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit ist mir bekannt. Für einen Moment war die Versuchung groß gewesen, Dekonspiration zu üben, die Klarnamen auszuschreiben und diese Leute vor aller Welt bloßzustellen. Ich verzichtete darauf: Die Namen aller Täter wie auch solcher Beteiligter, die ich nicht um ihre Zustimmung bitten konnte, ihre Namen zu nennen, sind abgekürzt oder geändert.
Es wäre allerdings interessant gewesen, die persönlichen Beweggründe und die heutige Befindlichkeit eines Menschen zu schildern, der ohne moralische oder politische Skrupel jahre-, mitunter jahrzehntelang gespitzelt, Beweise konstruiert, zersetzt und drangsaliert hat. Einige Male suchte ich im Zuge der Recherche Kontakt mit Tätern, um sie nach ihren persönlichen Motiven sowie nach ihrer Arbeitsweise zu befragen – vergebens. Immer scheiterte schon der Versuch, telefonisch einen Termin zu vereinbaren. Der eine wollte aus Gründen „militärischer Geheimhaltung“ nicht reden, die andere lehnte die „Hetze in der Presse“ ab, mehrere kappten nach meiner Erklärung, was ich wolle, einfach die Verbindung.
Eine ehemalige Bezirksrichterin verleugnete sich selbst am Telefon, verhaspelte sich aber dabei: „Ich bin nicht da, und die frühere Richterin ist meine Schwester.“ Und die sei auch nicht da.
Alle Versuche, mich zu belügen, wurden von Personen unternommen, denen es darum ging, sich als Opfer herauszustellen, um an Immobilien heranzukommen, die ihnen zu DDR-Zeiten angeblich abgenommen oder nicht zugesprochen worden waren.
So ging es einmal um einen dörflichen Wegerecht-Streit unter Nachbarn. Der Besitzer des großen Grundstücks, an das der Weg grenzt, behauptete mir gegenüber, seine Nachbarn hätten ihm mit Hilfe der Stasi zu DDR-Zeiten einen drei Meter breiten Streifen seines Landes abgenommen, um ein anderes Grundstück leichter erschließen zu können. Auf die Idee, diesen vermeintlichen Willkürakt als Skandal unter dem beliebten Stichwort „Alte Seilschaften“ der Zeitung anzutragen, kam der Mann erst, nachdem der Grundstücksstreifen von der Gemeinde 1994 als Weg befestigt und mit einem Namen versehen worden war und sich eine Klage vor Gericht dagegen als fruchtlos erwiesen hatte.
In einem anderen Fall versuchte sich ein vor dem Mauerbau nach Westen geflohener früherer DDR-Bürger mir gegenüber als politischer Flüchtling zu profilieren. Dafür konnte er keinen Beleg erbringen, kein Aktenstück, nichts. Nur einen Brief des damals für ihn zuständigen Betriebs-Parteileiters, er möge sich dann und dann zu einem Gespräch einfinden. Vor dem Termin sei er geflohen, weil er gewarnt worden sei, behauptete der Mann. Er sagte, bevor ich nach Zeugen fragen konnte, gleich dazu, die Frau, die ihn gewarnt habe, wolle davon heute nichts mehr wissen.
Dann rückte er heraus, worum es ihm wirklich ging: Seine Familie habe damals in einem Einfamilienhaus in einer Siedlung gewohnt, die in den 60er und 70er Jahren Haus für Haus zu lächerlich geringen Preisen an die Bewohner verkauft worden sei: „Hätte ich bleiben können, hätte ich alles darangesetzt, daß meine Mutter, die damalige Mieterin, das Haus gekauft hätte. So achtete niemand darauf, und der alten Frau war es selbst auch egal.“
Der Mann fragte mich allen Ernstes, ob es für ein Stasi-Opfer nicht möglich sein müsse, den Kauf des Hauses einzuklagen. Ich sagte ihm, die Frage der potentiellen Wahrnahme einer potentiellen Kaufoption könne er meinetwegen einem Gericht antragen – aus journalistischer Sicht sei seine Geschichte ein Windei und geradezu eine Beleidigung für die vielen Menschen, die Jahre in DDR-Knästen verbracht oder jahrzehntelang unter Stasi-Beobachtung gestanden hätten.
Vieles erinnert an die Zeit nach 1945. Kaum heilbare Traumata bei den Opfern, moralisches Trittbrettfahrertum, Desinteresse bei den meisten Unbeteiligten, keine Reue bei den Tätern, kaum Chancen auf eine Ahndung der Taten. Und wie damals geleugnet, verschleiert und relativiert wurde – schließlich hat Hitler die Autobahnen gebaut und den Bolschewismus bekämpft –, sind erneut Leugner und Relativierer aktiv: Schließlich war Hitler viel schlimmer, wurden Nazis nach dem Kriege kaum verfolgt, gibt es auch in der Bundesrepublik Justizskandale – und hatten nicht alle DDR-Bürger Arbeit, die Kinder einen Kindergartenplatz?
Noch scheint die Zeit nicht reif, daß eine Generation wie die 68er im Osten aufsteht, um die Eltern und die Großeltern nach ihren Akten zu fragen: „Auf welcher Seite habt Ihr gestanden?“
Eingedenk dessen denken viele Staatsanwälte schon seit einiger Zeit laut darüber nach, ob nicht ein gesellschaftliches Tribunal ohne nachgeordnete Exekutive als rein moralische Instanz die Aufräumarbeit da übernehmen sollte, wo die Justiz Unrechtsgefühle nicht beruhigen kann – schon um Rechtsfrieden wenigstens in solchen Fällen herzustellen, wo die Diskrepanz zwischen dem, was gerecht wäre und dem, was Recht ist, besonders groß ist.
Sechs Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten scheint dieser Zug allerdings abgefahren.
Berlin, im Februar 1997
„Von der Sowjetunion lernen...“
Die Ursprünge der Staatssicherheit ein Import
Werner Schöne ist um Fassung bemüht. Sein Kinn zittert, seine Augen werden feucht. Er sagt: „Ich bin nicht rachsüchtig“.
Doch einen gibt es, einen Offizier der Staatssicherheit, groß, schlank, offenbar nicht ohne zynischen Humor und Arroganz, bei dem weiß Schöne nicht, ob er sich beherrschen könnte, wenn er ihm begegnen würde. Der Mann nannte sich Günter K..
Über vier Jahre lang war Schöne vom sowjetischen Geheimdienst gefangengehalten worden, dann über ein Jahr Zwangsarbeit im DDR-Knast. Jahre später noch einmal nahezu 16 Monate Haft. Dann erpreßte ihn Günter K. zur Mitarbeit bei dem verhaßten Geheimdienst. „Wenn ich den zwischen die Finger bekomme, bringe ich den um“, sagt Werner Schöne. Nein, er habe als Inoffizieller Mitarbeiter niemandem geschadet, behauptet er. Von 1963 bis zum Ende der DDR hätte er über die Stimmung bei der Reichsbahn berichtet, wo er arbeitete. Ohne Namen zu nennen.
„Die haben mich mein ganzes Leben lang nicht in Ruhe gelassen.“ Er stützt eine Hand auf die verblichene Plastiktischdecke und dreht sich etwas steif um, blickt in seinen Schrebergarten in der Nähe des Bahnhofs von Frankfurt (Oder), als ob im Schatten zwischen den Obstbäumen und Stauden plötzlich etwas sehr Interessantes zu sehen wäre.
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