Fehlerhaft, da ideologisch gefärbt und geschönt, sind die Einschätzungen und Charakteranalysen in den Akten. Doch wenn ein Stasioffizier angibt, sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit mit IM „Notar“ oder „Sekretär“ getroffen zu haben, muß dies im Rahmen menschlicher Fehlbarkeit als Wahrheit hingenommen werden.
Und doch: Vor Gericht werden viele Informationen aus Stasiakten nicht nur mit vernünftigen Zweifeln bedacht und naheliegender Quellenkritik unterzogen, sondern grundsätzlich angezweifelt – nämlich immer dann, wenn konspirativ, also ohne Nennung von Autor und Adressat – intern Informationen ausgetauscht wurden. Mancher Täter ist unbehelligt und lächelnd aus dem Gerichtssaal geschritten, da das Gericht bei der Beweiswürdigung Informationen, die konspirativ ermittelt und logischerweise ohne Quellenangaben notiert worden waren, mit erlogenen Informationen verwechselt hatte.
Zu dem nichtbefriedigten Bedürfnis, durch ein Strafverfahren Rechtsfrieden herzustellen, gesellt sich da bei vielen Opfern das Gefühl, daß ihnen ihre mit den Akten gewonnene Biographie in der Diskussion über deren Faktizität wieder entgleitet.
Dieser Erfolg, der auf der Seite der Täter verbucht werden konnte, schlägt durch bis in deren letzte Reihe. Nicht viele Täter bringen allerdings soviel Mut – oder die Dreistigkeit – eines früheren Inoffiziellen Mitarbeiters der Staatssicherheit auf, der mir ganz offen und selbstbewußt damit drohte, daß ich „beim nächsten Systemwechsel“ (an dessen Kommen in naher Zukunft er nicht zu zweifeln scheint) auf sein Wohlwollen angewiesen sein würde. Ich solle mich gut mit ihm stellen, riet er mir in einem Leserbrief zur letzten Folge meiner Serie über Opfer der Stasi, die seit 1994 in der „Märkischen Oderzeitung“ in Frankfurt (Oder) veröffentlicht worden war.
In der 80. Folge der Serie hatte ich es gewagt, ohne den Namen zu nennen, von meiner Begegnung mit dem Mann zu schreiben: Obwohl sich der Stadtverordnete der PDS im Frankfurter Stadtparlament ein knappes Jahr zuvor selbst als früherer IM offenbart hatte, mochte er Ende 1993 nicht mehr dazu stehen. Er wollte der Veröffentlichung eines Wortlautinterviews nur dann zustimmen, wenn ich die Bezeichnung „IM“, die er sich selbst gegeben hatte, daraus streichen würde.
Er hatte in dem Interview sogar zugegeben, eine schriftliche Verpflichtungserklärung gegenüber der Stasi abgegeben zu haben. Da dieser formlose, handgeschriebene Zettel das Wort „Inoffizieller Mitarbeiter“ nicht enthielt, glaubte der Mann sich im Recht, sich als IM nicht bezeichnen zu müssen. Er nannte als einen weiteren Grund, daß ohnehin „keine Atmosphäre der Offenheit“ herrsche und daß die Öffentlichkeit mit dem Geständnis eines IM nicht angemessen umgehen könne. Natürlich erschien das Interview nicht. Es wäre unseriös gewesen, dem Mann die Streichung seines Geständnisses zuzugestehen und nur die Rechtfertigungen für sein Verhalten – er sei aus Familientradition ein überzeugter Sozialist und Antifaschist gewesen – zu veröffentlichen.
Im übrigen habe er niemandem geschadet.
Aus Sicht der Opfer ist diese immer wieder von Tätern oder Mittätern vorgebrachte Schutzbehauptung verlogen. Niemand konnte wissen, ob er jemandem schadete, weil die Stasi mit den Informationen, über die sie verfügte, je nach „operativer Lage“ und politischer Vorgabe nach Belieben umging.
Doch hatten und haben die meisten Opfer weder Kraft noch Mut, gegen die Selbstrechtfertigungen der Täter aufzustehen. Sie leiden still. Und sehen sich pauschal einbezogen, wenn Bohley und andere als „professionelle Opfer“ kritisiert oder angegriffen werden.
Die Reaktionen auf die Artikelserie waren vielfältig. Die einen riefen anonym an und bezichtigten mich der Lüge, bezeichneten mich zum Beispiel als „Handlanger des Großkapitals“ oder als „Büttel der Reaktion“, einmal auch als „Nazischwein“, und warfen mir vor, ich wollte nach dem Ende des Kalten Krieges den Kampf gegen DDR und Sozialismus mit meinen Mitteln weiterführen, um die Wahlchancen der PDS zu mindern.
Andere Anrufer nannten ihre Namen und wiesen schuldbewußt darauf hin, „von alldem nichts gewußt zu haben“. Sie seien immer davon ausgegangen, daß, wer in der DDR im Knast gesessen habe, schon etwas angestellt haben müsse. Sie wollten, so mein Eindruck, von mir Beweise geliefert bekommen, daß sie nichts hätten wissen können.
Das konnte ich nicht tun. Zwar hatten geschätzte 70 bis 80 Prozent aller DDR-Bürger tatsächlich keinen unmittelbaren oder bewußten Kontakt zu Tätern oder Opfern. Doch kann dieser unbestritten reale Erfahrungshorizont einer großen Mehrheit nicht davon ablenken, daß viele derer, die zu Opfern geworden waren, gesehen hatten, was zu sehen war, und offen darüber gesprochen hatten, ohne zu einer besonders erkenntnisfähigen Elite zu gehören. Was in der DDR im argen lag, war für jedermann erkennbar; mindestens vom blutigen Grenzregime an Berliner Mauer und Westgrenze wußte wirklich jeder. Und jeder hätte daraus seine Schlüsse auf den wahren Charakter des Gemeinwesens DDR ziehen können.
Wieder andere Anrufer, teils anonym, teils offen, wollten mir mit zum Teil grob denunziatorischen Enthüllungen über die Opfer, deren Schicksale ich veröffentlicht hatte, klar machen, daß diese so unschuldig nicht gewesen seien. Es gab vor allem eine Argumentationsschiene, die immer wieder befahren wurde: „Man wußte damals doch ganz genau, was man sagen oder tun durfte. Wer dagegen handelte, war doch eigentlich selbst schuld, wenn ihm etwas passierte.“
Hier wird die Schere im Kopf, die Selbstzensur, interessanterweise zum Lebensgesetz in der Diktatur erhoben. Übrigens ist das im Prinzip falsch: Wie viele andere Diktaturen gründete die DDR auf Angst, die durch Unberechenbarkeit geschürt wurde. Man konnte eben nicht genau wissen, was tolerabel war in der DDR. Die Grenzen zwischen legal und illegal waren unscharf, Interpretation und Handhabung der entsprechenden Gesetze änderten sich ständig mit den politischen Vorgaben, auf deren Basis die Stasi handelte. Das erweist sich beispielhaft, wenn man das Verhältnis von „Tat“ und Sanktion verschiedener Stasiopfer vergleicht. Wenn ich das diesen Anrufern darlegte, wurde mir häufig als letztes Argument vorgehalten, ich als Westdeutscher hätte ja eigentlich weder das Recht noch die Kompetenz, das zu beurteilen.
Und auch Stasi-Opfer riefen an. Bei ihnen hatte die Serie eigenes Erinnern ausgelöst. So wie die Gesprächspartner mir als Fremdem (und damit der Öffentlichkeit), wie ihre Verwandten und Freunde vielfach verwundert mitteilten, mehr offenbart hatten als jemals zuvor im Kreise ihrer Lieben, brachten die Artikel über diese Offenbarungen ähnliche Prozesse auch bei anderen Opfern ins Rollen.
Die Dynamik, die die Bearbeitung des Themas auf diese Weise entwickelte, machte eine journalistische Strukturierung der Serie bald unmöglich. Erst in diesem Buch kann sie zusammengefaßt werden.
Für einige meiner Gesprächspartner bin ich zu einer Art Therapeut geworden. Als Journalist, der eine gewisse Distanz zum Sujet seiner Arbeit für unerläßlich hält, machte ich damit eine neue Erfahrung. Von 70- oder 80jährigen wie eine Vaterfigur oder als eine Art Beichtvater behandelt zu werden, war für mich einerseits eine Bestätigung dafür, wie wichtig es ist, diese Lebensgeschichten zutagezufördern, schon wegen des Leidensdrucks, der diese Menschen mir, dem ersten oft, der ihre Geschichten wirklich hören möchte, so nahebringt.
Andererseits stand ich mitunter selbst unter erheblichem Druck, Emotionen Herr zu werden, mit deren Heftigkeit ich unmöglich hatte rechnen können.
Schon wegen des starken Rechtfertigungsdrucks einiger Opfer griff ich bei der Recherche für die Serie immer wieder auf Stasi- und Gerichtsakten als Grundlage für die Erzählungen der Betroffenen zurück.
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