Er konnte nicht sagen, was ihn mehr verletzte – die Menschen, die beleidigende Bemerkungen von sich gaben und vor ihm ausspuckten, wenn er mit seinem Becher in der Hand auf ein bisschen Kleingeld hoffte, oder diejenigen, die ihn schlichtweg völlig ignorierten. Vermutlich waren es die letzteren, die ihm mehr zusetzten, denn wenn seine Anwesenheit noch eine Reaktion bei anderen hervorrief, konnte er sich wenigstens gewiss sein, dass er noch existierte.
Er schälte sich langsam aus seinem Schlafsack. So hell wie es inzwischen war, war es sowieso an der Zeit, aufzustehen. Aber langsam und mit Ruhe. Mittlerweile machte er alles mit viel Ruhe und Bedächtigkeit, denn er wurde auch nicht jünger und seine Knochen wollten schlichtweg nicht mehr so wie früher. Andere Menschen seines Alters gingen mit solchen Wehwehchen zum Arzt und bekamen vermutlich irgendwelche Pillen dagegen verschrieben. Nun ja, er war eben nicht andere Menschen seines Alters. Den Schlafsack faltete er zusammen und brachte ihn in sein übliches Versteck, damit er nicht über Tag wegkam, weil ihn entweder jemand gebrauchen konnte oder die Müllabfuhr ihn mitnahm. Dann machte er sich auf den Weg.
Es war gegen zehn Uhr, als er an seinem Stammplatz in der Fußgängerzone ankam und sich mit seinem Pappbecher vor seinem Lieblingsdenkmal nieder ließ. Wenn ihn seine innere Uhr nicht täuschte, war heute Samstag und es waren viele Familien mit Kindern unterwegs. Er saß noch nicht lange dort, als ein Kind seine Mutter am Mantel zupfte und meinte: „Mama, schau mal, da auf dem Schild steht, dass der Mann Hilfe braucht, um sich etwas zu essen kaufen zu können“. Die Mutter schnaubte verächtlich durch die Nase. „Pah, wenn der etwas vernünftiges gelernt hätte, müsste der da nicht sitzen. Außerdem gibt der das Geld wahrscheinlich sowieso nicht für Essen sondern eher für Alkohol und Drogen aus. Siehst du, das passiert, wenn man in der Schule nicht aufpasst. Wenn der sein Abitur gemacht und etwas vernünftiges studiert hätte, dann müsste der nicht fremde Leute anbetteln!“ Sie zog das Kind am Arm weiter, das anfing, seine Mutter mit Fragen zu löchern, wieso ein Abitur einen davor schützte, mit einem Pappbecher in der Fußgängerzone zu sitzen.
Er schaute zum Fakultätsgebäude hinüber und stellte sich die gleiche Frage, denn er selber hatte ein Abitur – und nicht nur das. Vor ziemlich genau vierzig Jahren hatte er das Gebäude der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät das erste Mal betreten. Als junger Erstsemester im Diplomstudiengang. Er war ein intelligenter, junger Mann mit einer guten, mathematischen Begabung und großen Zielen gewesen. Sein Studium hatte er innerhalb der Regelstudienzeit abgeschlossen. Mit Auszeichnung. Sein Professor hatte viel von ihm gehalten und ihm daraufhin eine Promotionsstelle angeboten. Auch seinen Doktor hatte er mit Summa cum laude bestanden. Die Unternehmen in der Stadt hatten sich regelrecht darum gerissen, ihn einstellen zu dürfen. Während des Studiums hatte er eine Frau kennengelernt, mit der er sich ein Familienleben aufbauen wollte. Sie heirateten, bauten sich ein Haus, bekamen zwei Kinder. Er hatte ein nahezu perfektes Leben.
Doch dann veränderte sich alles schlagartig von einem Tag auf den anderen. Das Unternehmen, bei dem er gearbeitet hatte, meldete Insolvenz an und er verlor seine Stelle. Aufgrund der Rezession und seines Alters fiel es ihm schwer, wieder in Arbeit zu kommen. Die Vermittler beim Arbeitsamt waren ebenfalls wenig hilfreich, wenn es darum ging, einen neuen Job für ihn zu suchen. Angebote unterbreiteten sie ihm nicht und Qualifizierungsmaßnahmen lehnten sie jedes mal mit fadenscheinigen Begründungen ab. Je länger die Situation andauerte, umso schwieriger wurde es für ihn, eine angemessene Stelle zu finden. Ingenieure wurden zwar irgendwann wieder vermehrt nachgefragt, doch wenn er sich bewarb, bekam er immer nur zu hören, sein Fachwissen sei veraltet, weil er zu lange aus dem Job raus sei und man könne ihn daher leider nicht gebrauchen.
Mit der Situation wurde er nicht fertig und so begann er, zu trinken. Eines morgens wachte er auf und fand einen Zettel auf dem Küchentisch. Seine Frau hatte ihn verlassen und die beiden Kinder mitgenommen. Er hatte sich einfach zu sehr verändert, als dass sie es noch lange hätte mit ihm aushalten können. Auch damit wurde er nicht fertig und trank deshalb noch mehr. Das Haus war noch nicht abbezahlt, die Raten konnte er nicht mehr bedienen und so pfändete die Bank es schlussendlich. Eines Tages stand er dann da, der ehemalige Shootingstar der Universität, ohne Dach über dem Kopf und nur mit dem, was er am Leib hatte.
Man hatte ihm die Adresse einer Notunterkunft gegeben, aber er hatte Anpassungsschwierigkeiten und wurde mehrfach dabei erwischt, wie er Alkohol in die Unterkunft geschmuggelt hatte. Schließlich flog er wegen des wiederholten Regelbruches raus und stand wieder auf der Straße. Es war ein langer und schmerzhafter Prozess gewesen, der ihn gelehrt hatte, dass Alkohol keine Probleme löste, sondern nur welche schaffte. Das Trinken gab er dran, doch Anpassungsschwierigkeiten hatte er immer noch, weshalb er nun vollständig auf der Straße lebte und das schon seit vielen Jahren.
Das klimpern in seinem Pappbecher holte ihn aus seiner Trance zurück. Er warf einen Blick hinein und stellte fest, dass es für ein Brötchen und eine Tasse Kaffee reichte, sammelte seine Sachen ein und ging. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um und warf einen Blick auf die Inschrift am Sockel des Denkmals, an dem er am Vormittag gesessen hatte. Dort stand: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Artikel 2 Verbot der Diskriminierung
(1) Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, wie etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.
(2) Des Weiteren darf keine Unterscheidung gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, ohne Rücksicht darauf, ob es unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder irgendeiner anderen Beschränkung seiner Souveränität unterworfen ist.
Der Gast, ein älterer Herr, stellte seinen Koffer an der Rezeption ab und schob der Angestellten seinen Zimmerschlüssel hin. „Ich würde dann gerne auschecken.“ „Sehr gerne.“ Die junge Frau machte die Rechnung fertig und kassierte. „Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Heimreise und ein schönes Wochenende. Ich hoffe, der Aufenthalt in unserem Hause hat Ihnen gefallen.“ „Ja, Danke, und das hier ist für Sie.“ Er schob der Rezeptionistin gönnerhaft ein einzelnes Eurostück über die Rezeption. „Da, wo Sie herkommen, ist das ja viel Wert.“ Die junge Frau strahlte ihn über das ganze Gesicht an. „Das stimmt. Bei uns in Chorweiler bekomme ich da noch vier Brötchen für. Im Rest von Köln nur drei.“ Der Mann wurde puterrot im Gesicht, steckte seinen Euro wieder ein, brummte irgendwas von „Unverschämtheit“ und verließ wutschnaubend das Hotel.
Sie warf einen Blick über die Schulter, denn sie hatte das Gefühl, dass jemand hinter ihr die Szene beobachtet hatte. Gott sei Dank, in der Tür hinter ihr stand nicht die Rezeptionsleitung, sondern nur der Housekeeper, der sehr breit grinste. „Was denn? Soll ich mir das etwa gefallen lassen?“ „Du hast ja recht, Mary, das war auch verdammt rassistisch, aber lass dich bei so was nicht von Lisa erwischen. Das gibt sonst richtig Ärger.“ Sie zuckte mit den Achseln. Und wenn, es war ihr mittlerweile egal. Sie war es leid, ständig wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert und in ihrer Menschenwürde verletzt zu werden. Was konnte sie denn dafür, dass ihre Eltern aus Angola kamen? Seit ihrer Kindheit bekam sie zu spüren, dass sie anders war als andere, nur weil sie nicht weiß war. Früher im Kindergarten hatte es sie einfach nur irritiert, wenn andere Kinder ihr am Arm leckten, weil sie wissen wollten, ob sie nach Schokolade schmeckte. In der Schule hatte es ihr weh getan, dass man ihr unterstellte, sie würde sich nicht waschen, weil ihre Haut braun war und Dreck darauf angeblich nicht auffallen würde. Aber ihre Eltern hatten ihr immer gut zugeredet. Kinder würden vieles nicht verstehen. Erwachsene wären da anders. Wenn sie groß wäre, würde sie das schon sehen. Vor allem, wenn sie einen respektablen Beruf erlernen und studieren würde, dann würde diese Gesellschaft ihr völlig anders gegenüber treten und ihr den Respekt entgegen bringen, den sie auch verdiente. Sie hatte ihren Eltern geglaubt. Eltern glaubt man immer alles, wenn man klein ist. Eltern haben immer recht. Dachte sie.
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