Als er aufwachte, schien die Sonne bereits zum Fenster hinein. Eine frische, kühle, würzige Morgenluft zog durch die Stube. Lagrange war schon aufgestanden und hatte das Fenster aufgemacht.
»Habe ich dich geweckt? fragte er. Guntrol grunzte etwas unverständliches und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Wir reisen gleich ab«, sagte Lagrange.
»Kann ich vielleicht mit euch mitkommen?«
Lagrange schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das wird den Herren nicht recht sein. Außerdem hast du gar kein Pferd.« Das stimmte. Daran hatte Guntrol gar nicht gedacht.
»Mach nicht so ein Gesicht! Ich gebe dir meine Karte, damit du dich nicht wieder verläufst.« Guntrol verzog mißmutig das Gesicht.
»Weißt du was? Wir treffen uns in Narbon. Auf dem Großen Platz vor dem Haupttor des Königspalastes. Ich werde jeden Tag zu Mittagsstunde dort sein.«
»Ist gut, Lagrange. Ich wünsche dir eine gute Reise. Kommt heil durch den Monsterwald.«
»Danke! Ich lasse dir auch ein bißchen geweihtes Salz da. Damit kannst du die Monster und Dämonen vertreiben, wenn sie zudringlich werden sollten.«
»Wenigstens können sie mich damit gut würzen, bevor sie mich auffressen«, brummte Guntrol schmunzelnd und zog die Wolldecke bis zum Kinn hoch.
Zweites Kapitel.
Der Monsterwald.
Als Guntrol endlich aufstand, war es schon nach acht Uhr. Auf dem Tisch in der Schlafkammer lag ein kleiner Beutel. Er enthielt eine Handvoll Salz und einen Talisman. Daneben lag ein zusammengerolltes Papier. Es war eine einfache, aber hinreichend genaue Landkarte der nördlichen Hälfte von Zerwan. Alle wichtigen Wege und Straßen waren verzeichnet und der kürzeste Weg nach Narbon, der Hauptstadt des Landes, war unverkennbar mit roter Tinte markiert. »So blöde bin ich auch wieder nicht«, murmelte Guntrol und faltete die Karte zusammen. Er nahm den Beutel mit dem Salz und dem Talisman aus Jade und mußte dabei unwillkürlich lächeln. Er glaubte nicht an diesen Hokuspokus. Trotzdem steckte er den Talisman in seine Hosentasche und verstaute den Beutel in seinem Rucksack.
Da er Hunger hatte, begab er sich nach unten, in der Hoffnung auf ein herzhaftes Bauernfrühstück zu treffen. Jedoch fand er die Gaststube verwaist vor. Nachdem er eine Zeitlang vergeblich gewartet hatte, machte er sich auf die Suche nach den Wirtsleuten. Er fand die Wirtin schließlich in der kleinen Stube gegenüber der Küche. Sie brachte ihm ein Frühstück in die Gaststube. Auch einen halben Laib Brot und eine Wurst packte sie ihm als Wegzehrung ein.
»Ich danke Euch sehr, werte Frau! Was bin ich Euch schuldig«, fragte Guntrol, nachdem er sein ausgiebiges Frühstück beendet hatte.
»Nichts. Euer Freund hat Eure Zeche bereits heute Morgen beglichen.«
»Dann habt vielen Dank für die gute Bewirtung«, sagte Guntrol und wollte soeben sein Bündel umschnallen, als die Wirtsfrau ihn zurück hielt: »Einen Augenblick! Ich hätte es fast vergessen. Euer Freund bat mich noch, Euch etwas auszurichten. Er sagte, Ihr solltet auf keinen Fall den Weg durch den Wald nehmen, sondern lieber auf der nördlichen Straße über Zerob gehen.«
»Dieser Monsterwald, ist er so gefährlich?«
»Ich war noch nie dort und die Leute aus der Gegend, die ich kenne, auch nicht. Alle meiden ihn schon seit je her.«
»Dann gibt es da tatsächlich menschenfressende Ungeheuer?«
»Ich weiß es nicht. Ob Monster oder Verbrecher, geheuer ist es dort alleweil nicht. Vor ein paar Jahren flüchtete sich eine gefürchtete Räuberbande in den Monsterwald. Sie wurde nie wieder gesehen. Man fand später nur noch zwei herrenlose, völlig zerschundene Pferde. Wer weiß, vielleicht haben sie sich im Schutze der Nacht davon gemacht. Die Leute erzählen viel an langen Winterabenden. Ich kenne zwei Burschen aus dem Nachbarort. Die haben sich mal ein kleines Stück in den Wald hinein gewagt. Aber lange haben sie es da nicht ausgehalten. Selbst am hellen Tag dringt kaum ein Sonnenstrahl auf den Boden. Es herrscht eine unheimliche Stille. Die Bäume stehen so dicht, daß man nicht weit sehen kann. Wenn man den Weg verläßt, verirrt man sich, und in der Nacht fallen dann die Monster und Dömonen über die Wanderer her." Bei den letzten Worten senkte sie die Stimme. Guntrol spürte, ein leises Kribbeln im Bauch.
»Ist der Weg durch den Wald weit?« fragte er.
»Wenn Ihr morgens losgeht, und nicht säumt, könnt ihr am Nachmittag bereits wieder draußen sein. Der Weg auf der Straße über Zerob ist fast doppelt so lang. Doch ich würde auf jeden Fall den weiteren, aber sichereren Weg wählen.«
»Ja, das werde ich auch«, sagte Guntrol. Er verabschiedete sich von der freundlichen Wirtin und trat hinaus in die helle Morgensonne. Noch war es ziemlich frisch, aber der Himmel war klar und der Tag versprach angenehm warm und sonnig zu werden. Die frische Luft, das lustige Zwitschern der Vögel und der Duft nach frischem Gras und Frühlingsblumen vertrieben bald alle düsteren Gedanken an Monster, Teufel und Räuberbanden. Guntrol schritt zügig voran. Die Aussicht, bald nach Narbon zu gelangen und seinen Freund Lagrange zu treffen, ließ ihn unwillkürlich schneller gehen. Er war so wohlgemut, daß er eine Melodie vor sich hin pfiff. Bald hatte er das Dorf und die letzten verstreut liegenden Höfe hinter sich gelassen. Der Weg führte über grüne Wiesen und Weideflächen, vorbei an sanft geschwungenen Hügeln und fröhlich murmelnden Bächen voller glitzernder Fische.
Nach einer guten Stunde konnte er zum ersten Male den Monsterwald in der Ferne erblicken. Dieser Wald schien viel grüner und finsterer, als die Wälder auf den anderen Hügeln in der Umgebung. Von Guntrols Standort aus wirkte er freilich noch nicht sonderlich geheimnisvoll oder bedrohlich. Es war ein Wald wie jeder andere auch, nur daß er eine etwas ungewöhnliche Färbung besaß.
Bald darauf gelangte Guntrol an eine Weggabelung. Geradeaus führte der Weg nach Pfeilburg, mitten durch den Monsterwald. Links bog die Straße nach Zerob ab. Über Pfeilburg könnte er gute zwei Tage sparen. Außerdem könnte er dort vielleicht eine kleine Arbeit finden, um seine Reisekasse wieder aufzufüllen. Über Zerob wußte er nichts, außer daß es eine kleine Stadt war, die gern von Händlern auf der Durchreise besucht wurde. Dort gab es zahlreiche Herbergen und Gasthäuser.
Die Straße nach Zerob war dementsprechend gut ausgebaut. Tiefe Fahrrinnen zeugten von den vielen schweren Wagen und Karren der Händler und Bauern, die ihre Erzeugnisse in Zerob auf den Markt brachten. Der Weg nach Pfeilburg, der durch den Monsterwald führte, war nur ein etwas breiterer Feldweg, schon halb von Gras und Unkraut überwuchert. Wenn er nicht einmal im Jahr instandgesetzt würde, wäre er schon längst zugewachsen. Die Kaufleute von Pfeilburg ließen sich diese Arbeit gerne eine hübsche Summe Geldes kosten, welches sie bei den Bauen der umliegenden Dörfer und den Handwerkern in der Region wieder eintrieben, da diese ihre Erzeugnisse auch nach Pfeilburg auf den Markt brachten. Insbesondere frische, leicht verderbliche Ware konnte nur in Pfeilburg verkauft werden. Außerdem waren dort höhere Preise zu erzielen, da die Konkurrenz der Händler nicht so groß wie in Zerob war. Die Ländereien in dieser Gegend gehörten der Stadt Pfeilburg, welche als Lehensherrin auch die Steuerhoheit besaß.
Guntrol zögerte. Die Aussicht, ganz allein durch den berüchtigten Monsterwald zu marschieren, hatte wenig verlockendes an sich. Auf der anderen Seite müßte er nach Zerob einen großen Umweg machen, hätte kaum eine Möglichkeit, Geld zu verdienen und müßte unterwegs noch irgendwo übernachten. Aber der Monsterwald… Auch Lagrange hatte ihn ausdrücklich davor gewarnt.
»Guntrol, du Hasenfuß! Wolltest doch hinaus in die Welt und Abenteuer erleben. Und jetzt kneiffst du bei der ersten Gelegenheit!« sprach er ärgerlich zu sich selbst. Er schüttelte den Kopf. Die Sonne stach vom Himmel. Heute würde es ziemlich heiß werden. Im Wald wäre es dagegen angenehm kühl. Und wenn er zügig marschierte, könnte er schon am Nachmittag wieder heraus sein, und am Abend in Pfeilburg Quartier beziehen.
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