Als Guntrol durch das offene Gatter des ebenfalls in die Jahre gekommenen Gartenzaunes trat, erkannte er die über dem Türstock eingeritzte Jahreszahl. Das Haus war mehr als hundertzwanzig Jahre alt. Auf dieses Alter hätte er es auch ungefähr geschätzt. Die Art, wie die Querstreben mit den Längsträgern verbunden waren, wurde heute nur noch selten angewendet.
Über dem Eingang hing ein bunt bemaltes Holzschild, das in der Luft sachte hin und her schwang. Zum Lustigen Waldschrat stand in roten Buchstaben darauf. Guntrol betrat die Gaststube durch eine dicke, schwere, von Sonne und Regen ausgebleichte Eichentür. In der niedrigen Stube standen ein paar einfache Tische und Holzbänke. An den Wänden hingen Hirschgeweihe, Auf einem langen schmalen Brett standen Zinnkrüge und anderer Zierrat, wie man ihn in Dorfschenken allenthalben vorzufinden pflegte. Viel Kundschaft war nicht da. In einer Ecke saßen drei Bauern beim Bier und unterhielten sich leise. Ihre Unterhaltung verstummte jedoch abrupt, als sie den Neuankömmling bemerkten. Sie drehten sich um und musterten ihn unverhohlen von oben bis unten.
»Grüß Gott!« sagte Guntrol laut. Die Männer erwiderten den Gruß und wandten sich wieder ihrem Gespräch zu. Aus einem Nebenraum erschien eine Frau mittleren Alters. Sie trug ein einfaches braunes Kleid und eine weiße, etwas fleckige Schürze. Ihr ergrautes Haar trug sie zu einem Knoten hochgesteckt.
»Guten Tag, Fremder!« sagte sie. »Was darf es sein?«
»Ich suche ein Nachtlager und eine Kleinigkeit zum Essen.«
»Das sollt Ihr bekommen. Setzt Euch dort hin. Ich will euch gleich die Kammer richten. Ein besonderes Mahl kann ich Euch leider nicht bieten. Aber wenn Ihr eine gute Fleischbrühe, Wurst und Käse nicht verachtet, will ich Euch gleich auftischen.«
»Ja, das soll mir recht sein. Aber zuerst bringt mir bitte ein kühles Bier. Meine Kehle ist ganz ausgedörrt vom Staub der Landstraße«, sagte Guntrol und ließ sich auf die Bank fallen. Er legte seinen Rucksack und den Brotbeutel auf den Boden neben die Bank.
»Das kann ich gut verstehen«, meinte die Wirtin. Sie zapfte einen irdenen Maßkrug frischen Bieres aus dem großen Faß, das hinter dem Schanktisch in der Ecke stand und brachte es Guntrol an den Tisch. »Ich bringe Euch gleich Euer Essen.«
»Ist recht. Ihr braucht Euch nicht zu beeilen. Fürs erste will ich mich daran laben«, sagte Guntrol und schlürfte den Schaum von seinem Bier. Es war frisch und kühl und schmeckte ausgezeichnet. Nach dem langen Fußmarsch war es eine wahre Labsal, seine Kehle damit zu befeuchten. Mit einem tiefen Seufzer stellte Guntrol den Krug ab, wischte sich den Schaum vom Mund und streckte seine müden Beine aus.
»Ihr kommt wohl von weit her?« fragte einer der Bauern am Nebentisch.
»Jawohl, aus dem Apfelland, unten am Sternsee.«
»Das ist ein weiter Weg«, meinte der andere. »Ihr seid sicher auf der Wanderschaft, das sieht man gleich an Eurer Tracht. Aber was führt Euch in unsere einsame Gegend. Hier findet Ihr bestimmt keine Arbeit. Doch wollt Ihr Euch nicht ein wenig zu uns setzen?«
Guntrol nahm das freundliche Angebot dankend an und setzte sich mit seinem Krug zu den dreien an den Tisch. Es währte nicht lange und sie waren in ein Gespräch vertieft. Guntrol berichtete von seinen Plänen. Die Bauern waren begierig, Neuigkeiten aus dem Apfelland zu erfahren. Da so selten Fremde in ihr Dorf kamen und sie außer an Markttagen oder wenn ein Volksfest in der nächsten Stadt abgehalten wurde, nicht von ihren Höfen fortgingen, waren sie an Nachrichten und Neuigkeiten aus dem Rest der Welt sehr interessiert. Guntrol berichtete bereitwillig alles, was er wußte und was er auf seiner Wanderschaft erfahren hatte. Derweil brachte die Wirtin das Essen. Guntrol mußte seine Erzählung unterbrechen. Er war schon den ganzen Tag mit leerem Magen herumgelaufen, doch jetzt, da ihm der Duft der heißen Fleischsuppe in die Nase stieg, merkte er erst, wie hungrig er wirklich war.
Nachdem er sich gesättigt hatte, lehnte er sich müde und zufrieden zurück. Die Wirtin war inzwischen nach oben gegangen, um die Schlafkammer zu richten. »Ich habe Euch die kleine Kammer hinten links am Ende des Ganges gemacht«, sagte sie, als sie zurückkehrte.
Die drei Bauern bezahlten ihre Zeche und verabschiedeten sich. Draußen wurde es schon dämmrig. »Ja, der Tag ist nun auch vorüber«, sagte die Wirtin erleichtert während sie die leeren Bierkrüge einsammelte. »Bald muß mein Mann nach Hause kommen. Er war heute in der Stadt und hat Braugerste gekauft. Hoffentlich schafft er es noch vor Einbruch der Nacht nach Hause. Ich habe immer ein ungutes Gefühl, wenn er Nachts auf der Straße ist. Die Zeiten sind nicht mehr wie früher.« Mit ‚Stadt’ meinte sie einen ungefähr zwanzig Kilometer entfernten Marktflecken, an dem Guntrol am Vormittag vorbeigekommen war.
»Wollt Ihr noch ein Bier?« fragte die Wirtin.
»Nein, danke. Ich denke, ich gehe gleich schlafen.«
»Ja, Ihr seht wirklich müde aus. Ihr könnt Euch hinter dem Haus am Brunnen waschen. Wir haben eine eigene Quelle. Ich kann Euch auch etwas Wasser heiß machen.«
»Habt Dank, das ist sehr freundlich«, sagte Guntrol und packte seine Sachen zusammen. Kaum hatte er sich von der Bank erhoben, war draußen auf der Straße ein Lärmen zu vernehmen. Es war das Geräusch eines schweren Wagens und das Klappern von Pferdehufen.
»Das wird mein Mann sein«, sagte die Wirtin erleichtert. »Aber wen bringt er da mit?« Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen. Herein trat ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Seiner Kleidung nach zu schließen, handelte es sich um den Herrn des Hauses. "Grüß dich, Hemmo!" sagte die Wirtin.
»Guten Abend, Risa! Schau, ich bringe hohe Gäste mit! Hol die Magd und den Knecht. Laß den Herd anfeuern und hole den besten Wein aus dem Keller.« Er sprach laut und sichtlich aufgeregt. »Bitte, Herren! Tretet ein. Ich will Euch mit allem, was mein bescheidenes Haus zu bieten hat, zu Diensten sein. – Risa, sag der Magd, sie soll die Kammern für die Nacht richten.«
Von draußen hörte man mehrere Stimmen. Eine davon gehörte der Magd, die anderen konnte man kaum verstehen. Guntrol reckte den Kopf nach der Tür, um zu sehen, was für edle Herren zu dieser Stunde hier einzukehren beabsichtigten.
»Los, Bursche! Führe die Pferde in den Stall. Und reibe sie mir ja gründlich trocken«, rief der Wirt durch die weit offen stehende Tür. Er trat zur Seite, denn im Türrahmen erschien eine groß gewachsene Gestalt. Es war ein Ritter des Königs. Auf seinem blank polierten Brustharnisch trug er das königliche Adler-Wappen von Zerwan. Gleich nach ihm betraten zwei weitere Ritter, ebenfalls mit prächtigem Brustharnisch und dunkelgrünem Wams bekleidet, die Gaststube. In ihrem Gefolge befanden sich zwei weitere Männer: ein größerer stattlicher und ein kleinerer eher etwas schmächtigerer. Beide waren sie mit langen grauen Reisemänteln angetan. Sie hatten die Kapuzen ihrer Mäntel übergezogen, so daß Guntrol ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Der kleinere trug einen langen, mannshohen Stab, an dessen oberen Ende ein silberner Ring angebracht war. An dem Ring waren wiederum drei weitere, etwas kleinere Ringe eingefädelt, welche in der Mitte jeweils mit einer kleinen Kugel besetzt waren. Das untere Ende des Stabes war mit Eisen beschlagen. Der Stab selbst bestand aus schwarzem Holz. Das konnte nur ein Schamane oder Magier sein, dachte Guntrol verwundert. Was hatte ein heiliger Mann mit Rittern des Königs in einer abgelegenen Dorfschenke zu schaffen? Der andere Kapuzenmann war kein Schamane. Er sah mehr wie ein hoher Beamter aus. Unter dem Arm trug er eine abgewetzte Ledertasche, welche mit dem Wappen der königlichen Reichskanzlei, einem schwarzen gekrönten Adler auf goldenem Grund, sowie drei roten Sternen, verziert war. An der rechten Hand blitzte ein goldener Siegelring auf. Ohne Zweifel handelte es sich hierbei um einen königlichen Herold. Guntrol staunte nicht schlecht beim Anblick dieser hochkarätigen Reisegesellschaft. Ein Herold, ein Magier und gleich drei Ritter als Eskorte.
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