Im Februar 1929 war ich völlig erblindet. Die nun plötzlich eingetretene Hilflosigkeit und die Erkenntnis der unabwendbaren Tatsache, brachte eine derart niederschmetternde Gemütsbewegung mit sich, dass ich, als nun auch noch die Ablehnung meines Versorgungsantrages als Kriegsgeschädigter eintraf, durch eine heftige Nervenentzündung wochenlang ans Bett gefesselt wurde. Es dauerte jahrelang, bis ich mit wiederkehrender Beruhigung der Nerven auch das seelische Gleichgewicht wieder fand. Damit erwachte aber auch gleich neuer Lebensmut in mir und der Wille zur Arbeit. Das war allerdings kein leichtes Beginnen, denn das Konzentrieren meiner Gedanken auf einen bestimmten Gegenstand verursachte mir immer wieder, wenn auch vorübergehend, heftige Kopfschmerzen. Doch mit der Zeit trat auch hier eine leichte Besserung ein und es war mit stets eine große Freude, wenn ich wieder so eine kleine Arbeit zuwege brachte. Das war natürlich nicht so einfach und manch blauer Fingernagel war Zeuge davon, dass aller Anfang schwer ist.
Mehr als einmal habe ich die Zähne zusammengebissen, mit einem Seufzer den Schmerz fortgewischt und mit der Zeit den Nagel auf den Kopf zu treffen gelernt. Was ich früher in meinen Feierabendstunden bastelte, das wollte ich jetzt noch fertigbringen. Dabei erwies sich natürlich die Beschaffung einzelner Hilfswerkzeuge als unbedingt notwendig, die ich mir erst selbst ersinnen und anfertigen musste.
Wo ein Wille ist – findet sich auch ein Weg! Trotzdem schien es sehr gewagt, als ich, als früherer Buchhalter, den kühnen Plan zu dem auf den Fotografien gezeigten Anbau (Vorbau) am Haus, fasste. Das war für mich eine ebenso interessante wie schwierige Aufgabe, denn den Entwurf wie auch die Berechnung der einzelnen Teile, konnte ich natürlich nicht zu Papier bringen, sondern ich musste mir die einzelnen Maße und Teile im Kopf zurechtlegen und ins Gedächtnis einprägen. Dann aber ging es unverzüglich mit Eifer an die Arbeit. Der Bau des Betonsockels verursachte mir einige Schwierigkeiten, da durch das fortwährende Abtasten des Betons, meine Fingerspitzen blutig und wund geworden waren und diese Arbeit infolgedessen nur langsam vor sich ging. Die Zurichtung des Holzgerüsts ging unter Benutzung meiner Hilfsvorrichtungen sicher vorwärts und es war für mich eine ungemein große Freude, als beim Zusammensetzen die einzelnen Teile fast auf den Millimeter genau zueinander passten.
Wenn ich das Herumhantieren und Balancieren auf den Balken mit einer gewissen Sicherheit und Ruhe ausführte, so muss ich das neben äußerster Vorsicht wohl in erster Linie meiner frühen turnerischen und sportlichen Betätigung zuschreiben. Hinzu kommt noch die Schwindelfreiheit, da ich als Blinder die Höhenunterschiede nicht empfinde. Ohne irgendwelchen Zwischenfall, wuchs der Bau empor und ich hatte das bestimmte Gefühl, als würde ich durch eine unsichtbare Hand geführt. Auch die selbst gefertigten Fenster und Türen, passten genau und in etwa fünf Monaten hatte ich den Bau ohne fremde Hilfe vollendet.
Vielleicht wäre ich noch schneller damit fertig geworden, wenn nicht die immer wiederkehrenden Nervenkopfschmerzen und die damit auftretenden Entzündungen der Augen, ab und zu eine Unterbrechung der Arbeit gefordert hätten. Solange ich mich jedoch auf die eine oder andere Weise noch nützlich machen kann, werde ich mein Schicksal auch fernerhin lebensmutig zu tragen wissen.
Paul
Papa Paul baute trotz völliger Erblindung einen geschlossenen Vorbau ans Haus.
Detmold, Donnerstag, den 15.1.1942
Liebe Eltern und Bringfriede,
soeben habe ich Euren Brief erhalten und möcht ihn auch sofort beantworten. Zunächst im Voraus meinen besten Dank für das Päckchen. Hoffentlich lässt es nicht lange auf sich warten, denn so eine Nebenkost ist doch immer sehr willkommen. Gestern zum Beispiel bekam ich ein Päckchen von Tante Lotte und am Abend war der Inhalt des Päckchens schon vertilgt. Auf das Gebäck und die Süßigkeiten ist man ja sozusagen wie versessen, da uns ja beim Militär solche Abwechslungen in der Kost nicht geboten werden. Bis jetzt hatten wir noch keinen Ausgang gehabt, und die Sonntage in der Kaserne verbraucht. Doch nächsten Sonntag, geht die Kompanie geschlossen zum Hermannsdenkmal, wo von der gesamten Kompanie eine Aufnahme als stete Erinnerung an unsere Rekrutenzeit gemacht wird. Der Tag wird noch verschönert, indem wir in ein Café einkehren und dort Kaffee und Kuchen erhalten. Dazu spielt natürlich unsere Hauskapelle und wo die erscheint, gibt es immer Stimmung. Heute erhielt ich ebenfalls noch eine erfreuliche Nachricht, dass Erna und Ewald mich am Sonntag besuchen wollen und ich will versuchen, an diesem Tag auch Ausgang zu bekommen. Wir können dann allein zum Denkmal hinauf gehen und sie werden dann auch mal meine Kameraden kennenlernen. Bei uns ist es zurzeit saukalt, die Temperatur ist ganz und gar nicht zum Exerzieren geeignet. Doch wenn es gar zu kalt ist, gehen wir auf die Stube oder Unterrichtsraum und kloppen dort unserer Griffe. Bei »Tempo 3« weicht sogar die grimmigste Kälte und wir beginnen dann so allmählich zu schwitzen wie die Affen. Bis der Griff endlich mal in der Einigkeit klappt, fließt noch mancher Schweißtropfen. Lieber Papa, Du weißt ja auch Lieder davon zu singen. Nun noch was Geschäftliches. Am 13.12.1941 hatte ich 14,- RM an die Bank abgeschickt, doch noch keinen Auszug darüber bekommen. Habt Ihr ihn vielleicht zu Hause? Wenn ja, dann schickt mir bitte ihn und den Jahresabschluss.
Seid nun alle recht herzlich gegrüßt
Arnold
PS: Ich habe kein Briefpapier mehr, deshalb kann ich nicht mehr schreiben.
Abmarsch vom Hermannsdenkmal am 18.01.1942 (2. Zug). Der Dritte von rechts ist Arnold.
Detmold, Samstag, den 24.1.1942
Liebe Eltern und Bringfriede!
Soeben erhielt ich Euren lieben Brief und möchte ihn gleich beantworten. Also, Hermann ist in Deutschland und welch eine Freude muss das doch für Bringfriede und Euch gewesen sein, als diese Nachricht ankam. Wie oft habe ich schon während meiner Soldatenzeit an Hermann gedacht und habe ihm oft gewünscht, aus diesem Russland rauszukommen, da ihm bestimmt die körperlichen Strapazen nicht leichtgefallen sind. Und, als ich den Brief gelesen hatte, kam mir unwillkürlich der Gedanke, ob ich ihn nicht mal besuchen kann, denn soweit wird das ja von hier nicht sein. Was wäre das eine Freude für Hermann und mich, wenn ich tatsächlich eines Tages zu ihm fahren könnte. Ihr glaubt ja gar nicht, wie auch ich mich freue, dass Hermann nicht mehr in Russland sein muss.
Liebe Eltern, nun möchte ich mich noch über das reichhaltige Päckchen bedanken, dass diese Woche angekommen ist, besonders der Kuchen hat mir viel Freude bereitet. Doch für einen hungrigen Soldaten ist ja so ein Kuchen viel zu klein und wenn man mich da nicht bremsen würde, wäre vom Kuchen in fünf Minuten nichts mehr da. Liebe Mutter, Du hast Dich daheim so oft über meinen guten Appetit gewundert, doch wenn Du mich hier essen sehen würdest, ständen Dir die Haare zu Berge. Vier Teller beim Mittag- und Abendessen sind an der Tagesordnung und diese Menge reicht oft doch noch nicht aus, um mich sattzubekommen. Na ja, nach dem einen Monat Ausbildung, beginnt ja der ruhigere Dienst und der Appetit wird dann doch etwas nachlassen.
Arnold freut sich über den Inhalt eines Pakets von zu Hause – endlich Kuchen!
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