„Mein Grund ist nicht gut“, gibt er zu, „aber ich habe einen. Wenn ich dich ansehe, völlig unversehrt, sogar noch hübscher als damals, dann fühle ich mich um etwas betrogen … aber, vergiss es.“ Wieder fährt er sich über den Mund, als müsse er etwas abwischen. Vielleicht seine Bitterkeit?
„Das verstehst du ja doch nicht!“
Jan will immer noch aufgebracht aus dem leeren Glas trinken, was mir merkwürdigerweise einen Stich in die Brust versetzt. Mit aufeinandergepressten Lippen mustert er jeden Zentimeter meines Gesichts, das leere Glas fest in der Hand.
„Geh, lauf nach Hause, Ella! Und leb dein perfektes, kleines, unversehrtes Leben … Aber lass mich in Ruhe.“
Wieder dreht er sich von mir weg, als wäre er fertig mit mir. Doch dieses Mal schlage ich nicht kühn zurück wie vorhin, was mich selbst erstaunt hat. Dieses Mal steigen mir die Tränen in die Augen, die ich aufzuhalten versuche. Denn sein Schlag hat gesessen und tat verdammt weh, mehr, als ich zugeben möchte. Ich fühle mich elend, abgefertigt, von einem Mann mit Narben weggestoßen. Nicht seine Narben stören mich dabei, es sind seine Worte. So hat Jan nie mit mir gesprochen. So kenne ich ihn nicht. Was ist nur mit ihm geschehen, dass er mich, nach allem, was zwischen uns passiert ist, derart verletzen und demütigen muss?
Scham steigt in mir hoch, mitten in diesem vollen Lokal. Verstohlene Augenpaare mustern mich mit abschätzigen Blicken. Ich fühle Röte, die mir in die Wangen schießt. Noch wütender machen mich allerdings meine Tränen, die zu fließen beginnen, als er mich kurz von der Seite ansieht, ehe er auch Philips halbvolle Flasche runterkippt. Das laute Klirren der Flasche, die er auf die Theke knallt, weckt mich aus meiner Starre. Zornig wische ich mir dir Tränen von der Wange, bevor ich endlich richtig reagiere und aus dem verdammten Lokal stürme. Vorbei an vergnügten Männern und Frauen dränge ich mich so lange vor, bis meine Hände endlich die Glastür des Ausgangs aufstoßen.
Kalte Luft empfängt mich und lässt die Tränenspuren in meinem Gesicht brennen, was mich wütend macht. Ich brauche mein Handy, um mir schnell ein Taxi zu rufen. Nur weg von hier. Doch meine zitternden Finger sind nutzlos. Sie kramen in der winzigen Tasche und finden das ansonsten riesig wirkende Smartphone nicht. „Verdammt!“
Endlich ist es in meiner Hand. Die Namen und Nummern auf dem Display verschwimmen. Ich kann die richtige Nummer nicht entziffern, weil ich nicht aufhören kann, zu heulen. Dabei habe ich mir geschworen, dass ich mich nie wieder so fühlen würde – schon gar nicht seinetwegen.
Ohne zu wissen woher, spüre ich seine Anwesenheit hinter mir und drehe mich um. Jan steht da. Zerknirscht und blass sieht er mich an. Seine Schultern hängen herab. Keine Spur mehr von dem Mann, dessen Selbstvertrauen mich beinahe schon erschlagen hat. Der Moment kommt mir ewig vor. Endlich öffnet er den Mund. Ich bin nicht fähig, etwas zu sagen.
„Ella, es tut mir leid … Es liegt nicht an dir, nicht wirklich.“ Mehr als ein tadelndes Kopfschütteln bringe ich nicht zustande. Das hat vorhin noch ganz anders geklungen.
Jan kommt ein paar Schritte näher. Da ich ihn und sein Gesicht anstarre, fällt mir gar nicht auf, ob er nun hinkt oder nicht. Er stoppt mit einem kleinen Sicherheitsabstand und vergräbt die Hände in seiner Jackentasche.
„Seit dieser Sache komme ich nicht mehr mit Menschen aus meiner Vergangenheit klar, die den alten Jan kennen. Eigentlich … komme ich mit keinem mehr so richtig klar. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“
Die Art, wie Jan vor mir steht, nur ein Bein voll belastend, bitter und ehrlich, wirkt er verloren, so ganz anders als der harte, anklagende Kerl von vorhin. Ich kann es nicht erklären, doch am liebsten würde ich zu ihm gehen, diesen letzten Schritt zwischen uns überwinden und ihn fest umarmen, egal ob es ihm gefällt oder nicht. Und das, obwohl ich gerade noch seinetwegen weinen musste. Verrückt, aber es ist das, was ich will. Doch die vier Jahre zwischen uns, eine schmerzliche Trennung und das, was immer mit ihm passiert ist und ihn so verändert hat, halten mich davon ab. Ich sehe ihn an und wünsche mir, dass das Basecap nicht da wäre, weil ich ihn dann besser sehen könnte. Erstaunlicherweise bin ich es jetzt, die einen Schritt auf ihn zu macht, und die Worte, die ich zu ihm sage, sind einfach so da, ohne dass ich groß darüber nachdenken muss.
„Jan, ich werde nicht so tun, als wüsste ich, was du in den letzten Monaten durchgemacht hast. Du weißt ja auch nicht, wie es mir in den letzten Jahren so erging. Aber falls du, warum auch immer, mit jemandem reden willst … hier ist meine Nummer.“
Ich krame eine meiner Visitenkarten vom Hotel hervor und notiere meine private Handynummer auf der Rückseite. Als ich sie ihm hinhalte, zögert er und sieht mich vorsichtig überrascht an. Ich halte die Luft an und atme erst wieder aus, als er die Hand aus der Jacke nimmt, um nach der Karte zu fassen. Kurz berühren sich unsere Fingerspitzen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, der mich ihm in die Augen sehen lässt. Sie sind immer noch unglaublich blau und das Einzige an ihm, das nicht dunkel und düster wirkt. Lahm versuche ich zu lächeln. Ich muss den Verstand verloren haben. Ganz klar.
„Du nimmst dir doch ein Taxi nach Hause, so spätnachts?“
Diese simple Frage löst eine Flut an Erinnerungen aus, die mich zu überwältigen drohen. Nun klingt er wie Jan, mein Jan, der vielleicht genau das nie gewesen ist. Dennoch löst es etwas in mir aus, diese Sorge um mich. Ihn so heute wiederzusehen, war unerträglich. Und damit meine ich weder seine Narben noch die Tatsache, dass er humpelt.
Das gefällt mir nicht. Kurz geht mir durch den Kopf, dass ich ihm entgegnen könnte, er wollte doch vorhin noch, dass ich nach Hause laufe, in mein kleines perfektes Leben. Als er mich besorgt ansieht und sogar meinen Oberarm umfasst, verschwindet der Drang so schnell, wie er gekommen ist.
„Ella? Du rufst doch ein Taxi, oder?“
„Ja, ja. Natürlich“, stammle ich.
„Gut.“ Jan wirkt ehrlich erleichtert, was mich nur noch mehr verwirrt – wie der ganze Abend eigentlich. Doch als er meine Antwort hat, steckt er die Karte ein und scheint sich wieder vor mir zu verschließen. Ich denke nicht, dass er anrufen wird. Und vielleicht ist das ja auch am besten so. Für uns beide. Ja, es ist besser so, auch weil ein Teil von mir das unbedingt will.
Ohne sich zu verabschieden, verschwindet Jan die Straße hinunter. Ich schlucke einen riesigen Kloß runter, als ich sehe, wie er das linke Bein nachzieht und es seinen Gang unregelmäßig macht. Mit trockenem Mund rufe ich beim Taxi-Ruf an und warte auf den Fahrer. Seltsamerweise geht mir in der Nacht dieses merkwürdigen Wiedersehens die Nacht unserer merkwürdigen ersten Begegnung nicht aus dem Kopf.
Ella - 2010
Ich habe Angst. Schritte verfolgen mich. Noch bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich Angst haben sollte. Die schweren Schritte kommen näher, beschleunigen ihren Tritt. Verstohlen blicke ich über die Schulter. Ein großer Kerl folgt mir. Es ist viel zu dunkel, um wirklich etwas erkennen zu können. Spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass es eine dumme Idee war, zu Fuß nach Hause zu laufen, um drei Uhr nachts. Doch was blieb mir anderes übrig? Auf einer Party in der Innenstadt habe ich fünfmal versucht, ein Taxi zu bekommen, bis mir wieder einfiel, dass ich bei jedem Funktaxiunternehmen nur das Besetztzeichen bekommen würde. Denn in der Nacht des Lifeball, mit den unzähligen Partys und Veranstaltungen kommt es einem Sechser im Lotto gleich, wenn es einem gelingt, ein Taxi in der Innenstadt zu bekommen. Das fünfte Besetztzeichen noch im Ohr, habe ich mich auf den kurzen Weg aufgemacht, obwohl ich sonst, auch wenn ich es mir eigentlich nicht leisten kann, ein Taxi nehme. So oft gehe ich nicht aus, damit es wirklich negativ zu Buche schlagen kann. Und doch ärgere ich mich über mich selbst, besonders jetzt, wo mir der Fremde schon so nahe kommt, dass ich sein leises Schnauben höre. Ich wünsche mir, ich hätte keine Partyklamotten an, besonders keinen kurzen Rock. Meine Beine und die aufkeimende Panik treiben mich an, schneller zu gehen. Aber ich möchte ihn nicht provozieren. So gut es geht, versuche ich im Schein der Straßenlampen zu bleiben. Kalter Schweiß bricht mir aus. Seit fünf Minuten habe ich keine Menschenseele mehr gesehen. Noch drei Straßen. Nur noch drei. Nirgends ein Taxistand zu sehen. Die kleinen Gassen liegen nicht auf einer Hauptstraße. Warum biegt er nicht einfach ab? Bieg ab!
Читать дальше