„Was?“
Meine Stimme klingt viel zu hoch und panisch. Heißt das, was ich denke, dass es heißt? Jan kommt hierher, heute Abend?
„Ich sagte, wir treffen uns heute auf ein Bier.“
Philip brüllt mich an, als würde ich ihn nicht verstehen.
„Wann?“, bringe ich gerade so hervor. Mein Magen stellt im Moment komische Dinge mit dem Cocktail an, den ich intus habe. Kurz sieht Philip auf seine Uhr und zuckt mit den Schultern. „Eigentlich sollte er schon da sein.“
Während er einen weiteren Schluck Bier nimmt, höre ich ihn beim Abstellen der Flasche murmeln: „Wenn er nicht wieder hinschmeißt.“ Fragend blicke ich ihn an. Doch Philip gibt sich Mühe, mich zu ignorieren. Kein Zweifel. Das ist Absicht.
Inzwischen pressen meine Finger das Glas in meiner Hand so fest, dass sie schmerzen. Ich werde Jan Herzog wiedersehen. Den Mann, den ich eigentlich nie wiedersehen wollte.
Werde ich ihn überhaupt noch erkennen? Philip sagte etwas von Narben, Verletzungen. Die Reste des Alkohols versuchen bei dem bloßen Gedanken daran wieder meine Kehle hochzukommen. Schweiß sammelt sich zwischen meinen Brüsten, als ich Philips große Armbanduhr betrachte, deren Zeiger immer weiter vorwärts zucken. Als die Tür aufgeht und kalter Wind einen neuen Gast mitbringt, muss ich mich fast übergeben.
„Ach … Äh … Philip. Entschuldigst du mich kurz? Ich muss mal …“ Lahm deute ich auf mein riesiges, leeres Cocktailglas und erhebe mich umständlich vom Hocker. Als meine Füße den Boden berühren, ist mein Stand alles andere als fest. Und das liegt bedauerlicherweise nicht an den hohen Schuhen oder an dem Mai Tai. Ich muss hier weg, zur Toilette, mich verstecken. Verhindern, Jan Herzog über den Weg zu laufen. Diesem Mann kann und darf ich nicht begegnen. Meine Absätze klacken hektisch auf dem Weg runter zu den Toiletten. Noch nie war ich so froh, das Wort „Damentoilette“ zu entdecken wie jetzt. Gott sei Dank. Ich bin alleine hier. Niemand muss mit ansehen, wie ich mich am Waschbeckenrand festhalte und meine Atmung auf Hochtouren läuft. Am liebsten würde ich mir eiskaltes Wasser ins Gesicht klatschen, aber dann sähe ich aus, als hätte ich sie nicht mehr alle. Ich begnüge mich damit, meine Hände mit kaltem Wasser abzuspülen, um sie mir fest in den Nacken zu pressen. Die Kälte erdet mich, bringt meine Gedankenflut einigermaßen zur Räson. Gut, genau das brauche ich jetzt. Mit geschlossenen Augen atme ich durch und ignoriere das Klopfen auf der anderen Seite der Tür. Als es lauter und drängender wird, öffne ich die Augen und sehe mir selbst im Spiegel entgegen. Überrascht stelle ich fest, dass ich ganz normal aussehe. Sieht man von dem ängstlich traurigen Blick mal ab. Ich sehe zu sehr aus wie ich, egal was Philip meint. Es gibt keine Chance, dass Jan mich nicht erkennt.
„Hey, jetzt mach mal! Wir müssen auch“, keift mich eine Frau durch die Tür an.
„Ja, gleich“, verspreche ich. Doch eigentlich möchte ich lieber hierbleiben, auch wenn das nicht geht.
Mit mulmigem Magen öffne ich die Tür und ernte einen vernichtenden Blick eines blonden Mädchens, dessen falsche, lange Nägel deutlich machen, dass mit ihr nicht zu spaßen ist. Sie schubst mich beinahe zur Seite, mustert mich abfällig und rennt in die Toilette. Eine schüchtern wirkende Brünette zuckt entschuldigend mit den Achseln.
Manche Schritte im Leben setzt man nur sehr ungern und vorsichtig, so wie ich jetzt. Im Schneckentempo steige ich die Treppe zum Lokal hoch. Oben angekommen, sehe ich mich um und erspähe Philip sofort. Auf meinem Platz, neben ihm sitzt ein großer Kerl, dessen Gesicht man nicht erkennen kann, da er ein Basecap tief ins Gesicht gezogen trägt. Er drückt sich am Ende der Bar regelrecht gegen die Wand und blickt ständig nach unten. Ist das etwa Jan?
Jan, der einen schlimmen Autounfall hatte. Jan, der mir gezeigt hat, was guter Sex ist. Jan, in den ich wahnsinnig verliebt war, ehe er mir das Herz gebrochen hat. Jan, den ich seit vier Jahren nicht gesehen habe. Schwer zu sagen. Ich habe eigentlich nur zwei Möglichkeiten: abhauen und nie wieder hierherkommen oder rübergehen und es herausfinden.
Leider gehöre ich zu jenen Menschen, die immer, wirklich immer, am Schorf kratzen müssen, bis es wieder zu bluten anfängt. Auch in diesem Moment bleibe ich mir und meiner Natur treu – dumm wie ich bin – und gehe rüber zu ihnen. Ohne auf meinen pochenden Herzschlag und meinen brennenden Magen zu hören, umrunde ich die Bar, bis ich vor einem um Entschuldigung blickenden Philip stehe, der mir die Sicht auf seinen Begleiter versperrt.
„Das ist kein guter Zeitpunkt, Ella“, versucht er mich flüsternd vorzuwarnen. Die Panik in seinen Augen bereitet mir mehr Sorge als die Bedeutung seiner Worte.
Der Typ, von dem ich glaube, dass es Jan ist, lehnt sich etwas vor. Doch mehr als sein bartbeschattetes Kinn und die Andeutung von Nase und Wangen erkenne ich nicht, auch wenn mir das, was ich sehe, vage vertraut vorkommt.
„Sehr gut siehst du aus, Ella. Richtig erwachsen. Wie das blühende Leben.“ Voller sarkastischer Bitterkeit spuckt er mir die Worte hin, als wolle er mich in aller Öffentlichkeit bloßstellen. Nur die inzwischen laute Musik verhindert, dass jemand außer uns dreien gehört hat, was er wie zu mir gesagt hat. Völlig erstarrt stehe ich da, erkenne langsam, dass es tatsächlich Jans Stimme ist, auch wenn ich mich nicht erinnern kann, jemals diesen Ton von ihm gehört zu haben.
„Ich …“, stammle ich, ohne es verhindern zu können.
„Du, was?“, richtet er sich schneidend an mich. Jan blickt mich nun direkt an und trotz der spärlichen Beleuchtung und dem Schatten seiner Mütze sehe ich die Narben auf seiner linken Gesichtshälfte. Zwei Furchen, die eine windet sich zackend von seiner Stirn die Schläfe entlang, die andere Narbe gräbt auf seiner Wange eine hellrosa Ader durch seine dunklen Bartstoppeln Richtung Kinn. Ansonsten sieht er aus wie eine wildere oder dünklere Version seines vier Jahre jüngeren Ichs. Abgesehen von dem kalten Blau seiner Augen, die absolut jeden zur Distanz auffordern. Ich schlucke, ehe ich mich gezwungen sehe, etwas zu sagen. Selbst Philip, ebenfalls verstummt, starrt mich an, als würde er meine Reaktion abwarten, ehe er wagt, noch etwas zu sagen.
„Es … Es ist schön, dich zu sehen.“
„Möchte ich wetten.“ Schnaubend schnappt Jan sich sein Bier und leert es in einem Zug. So langsam macht er mich wütend.
Als er sich zur Seite dreht, so als wäre er mit mir fertig, kocht etwas in mir über. Fahrig dränge ich mich an einem perplexen Philip vorbei und starre Jan von der Seite an.
„Was ist dein Problem?“
„Du“, antwortet er schnaubend und reibt sich über den Mund.
„Hey, wenn hier einer wütend auf den anderen sein müsste und sein gutes Benehmen vergessen darf, dann doch wohl ich!“ Schließlich hatte er mich belogen und unsere Beziehung zerstört.
„Na, dann müsste das hier“, er deutet auf sich, seine Narben und auf mich, „doch genau, das sein, was du dir erträumt hast.“
Verwirrt starre ich ihn an. Was soll das denn?
„Mal ehrlich, wie oft hast du mir den Tod gewünscht, als ich es mit uns versaut habe? Nun ja, ganz hat’s nicht gereicht, aber fast. Immerhin laufe ich ziemlich krumm und die meisten sehen mich nur ungern an … Genügt dir das?“ Wütend starrt er mich in Grund und Boden.
Philip ist die ganze Szene derart peinlich, dass er sich die Hand vors Gesicht hält. Ich kann gar nicht glauben, was er da von sich gibt. Glaubt er das wirklich? Was an mir macht ihn denn nur so wütend? Das Ganze ist absolut untypisch für den Jan, den ich kenne – wohl eher … kannte.
„Hey!“ Ich packe ihn an der Schulter. „Du spinnst, wenn du denkst, ich würde mich irgendwie über das freuen, was dir passiert ist. Das ist vollkommener Blödsinn! Es tut mir leid, ehrlich leid … Aber es gibt dir noch lange nicht das Recht, mich hier ohne guten Grund so anzufahren.“ Meine Stimme ist viel zu laut und ich habe Magenschmerzen. Vor allem jetzt, wo er mich mit seinen traurigen blauen Augen derart ansieht.
Читать дальше