Er hatte eindeutig zu viel Whisky getrunken!
Er gab sich die Schuld an ihrem Tod und hatte damit Recht!
25 Jahre später
Aurelius von Bartenstein inspizierte die Baustellen, für die er als Architekt verantwortlich war, am liebsten nach Feierabend. Tagsüber verbrachte er lieber seine Zeit im Büro vor dem Computer. Außerdem konnte er auf diese Weise den oft langwierigen und sinnlosen Erklärungen der mit dem Bau Beschäftigten entgehen. In aller Ruhe konnte er die Baumängel selbst herausfinden.
Auch der Büroneubau in der Landsberger Straße, zwischen den Münchner Stadtteilen Pasing und Laim gelegen, gehörte zu seinen Projekten.
Der Architekt parkte seinen Wagen am Straßenrand und näherte sich dem Rohbau. Kein Mensch war mehr auf der Baustelle zu sehen. Leer und bizarr ragte das Gerüst in den abendlichen Himmel.
Das Licht über München reichte noch aus, um auch in den oberen Stockwerken Details erkennen zu lassen. Der Architekt runzelte die Stirn, als er den Schaft eines Werkzeugs über die Laufplanke in Höhe des dritten Stockwerks herausragen sah.
Eine bodenlose Schlamperei, für die er am nächsten Tag den Bauleiter zur Rechenschaft ziehen würde!
Vorsichtshalber wollte Aurelius, der letzten Monat achtundvierzig Jahre alt geworden war, einen Bogen um die Gefahrenstelle machen, doch da geschah plötzlich etwas Seltsames mit ihm!
So sehr er sich auch bemühte, von dem noch nicht fertigen Bürgersteig hinunter auf die Straße zu gelangen, er schaffte es nicht! Unaufhaltsam näherte er sich dem Gerüst. Schon erreichte er die ersten senkrechten Pfosten.
Nur mehr wenige Schritte trennten ihn von der Stelle, über welcher der Werkzeugstiel wie eine stumme Drohung in die Luft ragte. Aurelius biss die Lippen zusammen und stemmte sich gegen den rauen Untergrund, der aus festgestampfter Erde bestand. Er strebte zur Straßenmitte, aber eine unsichtbare Kraft drängte ihn vorwärts, der tödlichen Gefahr entgegen.
Es ging so rasend schnell, dass der Architekt verstandesgemäß nicht mehr erfassen konnte, was mit ihm geschah!
Anstatt dem Gefahrenpunkt ausweichen zu können, drängte ihn etwas, dass er weder sehen noch fühlen konnte, immer weiter vorwärts.
Er riss den Kopf in den Nacken und starrte entsetzt zu dem dicken Holzstiel hinauf, der in Höhe des dritten Stockwerks wie ein Bleistift aussah. Für einen Sekundenbruchteil schoss es Aurelius durch den Kopf, welches Werkzeug wohl an diesem Stiel hängen mochte, dann geschah es auch schon!
Niemand stand da oben im dritten Stock. Die Laufplanken waren so schmal, dass der Architekt jeden Menschen hätte sehen müssen, der darauf ging oder lag.
Dennoch kippte der Werkzeugstiel, wie von unsichtbarer Hand gestoßen und sauste in die Tiefe. In den wenigen Zehntelsekunden, die bis zum Aufprall blieben, erkannte Aurelius mit Grauen, dass es ein mächtiger Vorschlaghammer war, dessen massiver Metallkopf vor allem aus dieser Höhe durchaus in der Lage war, einen menschlichen Schädel zu Brei zu schlagen.
Seinen Schädel!
Denn Aurelius stand genau unterhalb des abstürzenden Hammers. Dieses unerklärliche Etwas hielt ihn fest, verhinderte, dass er sich in Sicherheit brachte.
Mit einem letzten Aufflackern seines Lebenswillen schnellte seine rechte Hand vor. Er bekam einen Holm des Gerüsts zu fassen. Alle Muskeln anspannend, riss er sich selbst ein Stück vorwärts. Es gelang ihm, die unsichtbare Macht zu überwinden.
Der Architekt glaubte, den Luftzug zu spüren, als der schwere Hammer haarscharf an seinem Gesicht vorbeisauste. Im nächsten Augenblick bohrte sich der Metallkopf mit einem dumpfen Schlag in die festgestampfte Erde des noch nicht vollendeten Bürgersteigs.
Der Hammer verschwand bis zur Hälfte im Untergrund.
Taumelnd machte Aurelius einige Schritte hinaus auf die Straße und schaute an dem Gerüst empor. Sosehr er auch suchte, er konnte keine Anzeichen dafür entdecken, dass sich jemand dort oben befand, weder auf dem Gerüst selbst, noch irgendwo in dem Neubau, an dem noch sämtliche Außenwände fehlten. Der Schall eines Schrittes hätte auf jeden Fall bis hinab auf die Straße dringen müssen.
Der Architekt musterte auch prüfend die Bürgersteige und die benachbarten Häuser. Es war eine typische Münchner Gewerbestraße, tagsüber von Verkehrstaus gequält, abends und vor allem nachts jedoch ausgestorben wie ein Friedhof. Niemand hatte den Unfall beobachtet, niemand konnte bezeugen, dass der Hammer tatsächlich aus dem dritten Stock heruntergestürzt war.
Der Hammer!
Aurelius erinnerte sich an das Instrument, das ihm beinahe den Tod gebracht hätte. Er musste diesen sicherstellen, um am nächsten Tag mit den Nachforschungen beginnen zu können, wer für diesen Leichtsinn verantwortlich war.
Der Architekt senkte seinen Blick und fuhr mit einem überraschten und erschrockenen Aufschrei zurück.
Ächzend griff er zu seinem Herz.
Die Aufregung war fast zu viel für seine angegriffene Gesundheit. Der Anblick, der sich seinen Augen bot, traf ihn wie ein Schock. Deutlich zeichnete sich in dem nachgiebigen Erdreich der Abdruck des schweren Metallkopfes des Hammers ab. Das Werkzeug selbst aber war, obwohl sich kein Mensch der Unglücksstelle genähert hatte, verschwunden!
Sein Blick irrte nach oben.
Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Nein! Es war kein Irrtum möglich! Das war keine optische Täuschung.
Über den Rand des Bretts im dritten Stock ragte der Stiel des massigen Vorschlaghammers heraus!
Er war mittlerweile sehr gerne Privatdetektiv. Aber doch brauchte er von Zeit zu Zeit Abstand von seinem Beruf. Sein hervorragender Ruf in Fachreisen gestattete es David Buchmann, auch einmal für mehrere Monate zu verreisen, ohne dadurch Aufträge einzubüßen.
Er war früher ein bekannter Theaterregisseur gewesen. Bei einem blutigen Überfall auf das Theater44 hatte David als einziger überlebt. Die grausamen Augenblicke erschienen immer wieder wie ein Film vor seinem geistigen Auge.
Warum habe ich überlebt und alle anderen sind tot?
Immer wieder stellte er sich diese Frage. In der Presse wurde von einem Wunder geschrieben. David konnte nach diesem Erlebnis kein Theater mehr betreten. Er hatte sein Leben komplett verändert und wollte Menschen, die unschuldig in Not geraten waren, helfen.
Daher machte er sich als Privatdetektiv selbständig. Er mietete in der Nymphenburger Straße ein kleines Büro und lebte zu Beginn von seinen Ersparnissen. Aber schnell wurden seine außergewöhnlichen Erfolge bekannt und er konnte sich vor Aufträgen nicht mehr retten.
Viele Leute, insbesondere die Münchner High Society, baten um seine Hilfe, sodass er ständig eine große Auswahl an Aufträgen vorliegen hatte.
David Buchmann hatte es sich auf der kleinen Ledercouch in seinem Büro bequem gemacht, die Schuhe ausgezogen, sich ein Kissen unter den Kopf gestopft und die Beine hochgelegt. Neben ihm stand eine Flasche mit Wodka, Zigaretten und Salzgebäck. Der CD Player verströmte gedämpfte Klänge. Das ewig nervende Handy schwieg. Der Privatdetektiv dachte an seine ehemaligen Freunde, an Linda Mucia, die berühmte Schauspielern, oder an Valentina Burgmeister, das junge attraktive Mädchen. Beide waren tot, zerfetzt von zwei unheimlichen Kreaturen.
Sein Gesicht verdüsterte sich mehr und mehr. Hätte er seine Freunde retten können? Warum hatte er als Einziger überlebt?
Mitten in seinen Überlegungen hinein schrillte die Türklingel. Mit einer eleganten Rolle sprang David hoch und lief zur Tür. Eine Ablenkung von seinen negativen Gedanken war ihm jetzt willkommen.
Durch den Türspion sah er einen Unbekannten mit dunkel getönter Sonnenbrille und gepflegten, schwarzen Haaren draußen stehen. Der Mann mochte etwas vierzig Jahre alt sein und hatte ein intelligentes Gesicht, das zumindest in diesem Moment angespannt und gehetzt wirkte.
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