Nachmittags ging ich zu meiner Hausärztin, da ich die unentwegten Magenschmerzen nicht mehr ertragen konnte. Ich konnte mich bei ihr nur mühsam beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen. Sie schaute immer wieder auf meinen Ehering, den ich auf jeden Fall im Büro bis zum Tag der Scheidung tragen würde. Dann gab sie mir etwas gegen die Bauchschmerzen, ein Antidepressivum und eine Broschüre mit Namen von Psychotherapeuten in meinem Bezirk.
Meine Mutter hatte mir eine Broschüre von Selbsthilfegruppen in den Briefkasten gesteckt. Darauf hatte sie geschrieben: „Du bist wer!“
Ich brauchte so schnell wie möglich Hilfe. Ich saß niemals depressiv herum, außer wenn ich Rotwein trank und Zigaretten rauchte (ich wunderte mich, wie schnell aus einem Nichtraucher ein Raucher werden konnte), ich lief immer wie eine Gehetzte herum, immer unruhig und immer überlegend, was ich als Nächstes tun könnte.
Abends fuhr ich zu Katja zum Essen. Ihre Schwester Vanessa war auch da, sie hatte sich gerade von ihrem Ehemann getrennt. Katja hatte nach wie vor Kummer mit ihrem Freund. Es tat uns allen drei so gut, sich gegenseitig auszusprechen. Ich musste immer reden, etwas anderes als mein Kummer und der meiner Freundinnen interessierte mich zurzeit nicht.
10. November
Im Büro fing ich mitten in der Arbeit an zu weinen. Anita fragte mich, ob ich eine Runde mit ihr drehen wollte. Die kalte Luft tat mir gut. Ich erzählte ihr ein paar Sätze, keine Details, aber gerade so viel, dass es mir gut tat. Ich war ihr so dankbar, weil sie mir eine Menge Arbeit abnahm, die ich zurzeit nicht bewältigen konnte. Die anderen Kollegen sollten es nicht erfahren. Ich wollte mir einen Ort bewahren, an dem ich mich normal geben und an dem ich normal behandelt werden wollte. Außerdem hätte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen.
Abends hielt ich es nicht zu Hause aus. Ich fuhr wieder zu ihm. Die Haustür war angelehnt, und ich konnte ohne Probleme durch den Hof in sein Fenster spähen. Sie waren zwar durch Tücher verhängt, aber links und rechts von ihnen waren Spalte. Sie saßen auf einem zusammengefalteten Karton, sahen fern, tranken Rotwein und rauchten. Auf dem Herd stand Essen. Dann beugte sie sich zu ihm herüber, und sie küssten sich. Ich fand, er sah dabei merkwürdig aus, steif und mit halb verrenktem Hals, so, als ob er keinen Spaß dabei hatte. Den hatte er sicher auch nicht. Es war sicher ein merkwürdiges Gefühl für ihn, plötzlich eine andere Frau zu küssen. Ich konnte sehen, dass er noch keine Möbel hatte – bis auf die Küchenmöbel, die schon halb aufgebaut waren. Auf jeden Fall hatte er mich angelogen. Es war nicht aus zwischen ihnen, sondern es ging weiter. Ich konnte sie mir genau ansehen. Sie war höchstens vierundzwanzig und dünn, und ich fand sie sehr unattraktiv. Die Augenbrauen hatte sie rasiert und mit einem Stift nachgezeichnet. Sie konnte ihm unmöglich gefallen.
Ich wollte ihnen keinen schönen Abend gönnen, also rief ich ihn von zu Hause an und fragte ihn, wann er die restlichen Sachen holen wollte. Er sprach müde und langsam vom Alkohol: „Ich weiß noch nicht. Wann bist du denn nicht da? Vielleicht am Montag.“
Ich wollte ihn aus der Reserve locken: „Hat denn deine neue Freundin ein Auto? Ich würde es dir ja bringen, aber dann ist sie da, und das will ich nicht.“
„Nein, nein, hier ist keiner.“
„Doch, ihr wohnt doch zusammen. Du musst mich nicht anlügen.“
Ich fragte, ob seine neue Freundin einen Job hätte. Er sagte, er wolle jetzt nicht reden, und wir hängten ein.
Nach dem Telefonat ging es mir besser, und ich hatte keine Bauchschmerzen mehr. Er hatte mich angelogen! Er hatte mich nicht verdient! Meine Liebe war vorbei! Ich spürte plötzlich einen Energieschub.
Sie hatten sich einfach so geküsst, ohne dass er über sie herfiel. Wenn wir uns geküsst hatten, wollte er immer gleich Sex. Außerdem war er Raucher. Das waren die Gründe, warum wir uns nur noch selten geküsst hatten, außer beim Sex. Es tat sehr weh zu sehen, dass er eine andere küsste.
Ich rief Vanessa an und erzählte, was ich gesehen hatte. Sie fragte, warum ich dort hingefahren wäre. Ich antwortete, dass ich die Trennung schneller verarbeiten würde, wenn ich die Dinge mit eigenen Augen sehen würde. Auch wenn es mir unglaublich wehtat. Nur so konnte ich versuchen, das Gesehene mit meinem Verstand aufzunehmen und mich nicht selbst zu belügen.
Ich nahm eine halbe Tablette Antidepressiva. Ich schlief genauso wenig und wachte zwischendurch zweimal auf, aber wenn ich schlief, dann tief.
11. November
Es war ein Samstag. Ich hatte die schlimmste Woche aller Zeiten hinter mir, sämtliche Liebeskummer-Symptome und war nur am Weinen. Die halbe Tablette wirkte noch. Ich war bleischwer und saß bis um 14.00 Uhr untätig nach dem Frühstück an meinem Esstisch herum. Innerlich war ich jedoch total unruhig. Ich hatte die ganze Zeit die gestrigen Bilder vor Augen. Ich konnte heute nicht einmal weinen, so gelähmt war ich. Ich wollte schnell aus der Wohnung ausziehen, die zu Ende Januar gekündigt war.
Nachmittags rief ich ihn an. Es sprudelte aus mir heraus. Ich bemühte mich, freundlich zu sprechen, um einen Streit zu vermeiden. Ich sagte ihm, dass er irgendwann angefangen hatte, sich mit seinen Freunden zu vergleichen. „Aber sind sie wirklich besser? Sind sie glücklicher? Ich glaube nicht. Wenn die Liebe zur Routine wird und der Alltag die Liebe erdrückt, muss man Gemeinsamkeiten finden und mehr Zeit zusammen verbringen. Ich machte immer Vorschläge wie Sport, Kultur, Ausflüge. Das machte dir keinen Spaß. Irgendwann erwiderten wir auch unsere körperlichen Annäherungsversuche nicht mehr. Und mein Verantwortungsbewusstsein und mein Pflichtbewusstsein überdeckten die Liebe. Vielleicht hätte ich mich auch mehr für Autos und Elektronik interessieren müssen.
Ich habe dich immer für deinen guten Charakter und mentale Festigkeit bewundert.
Mir geht es jetzt viel schlechter als dir. Du hast dich monatelang auf die Trennung vorbereitet, für mich kam sie plötzlich. Ich würde alles tun, um unsere Trennung ungeschehen zu machen, ich wünsche mir so sehr, dass wir noch einmal von vorn anfangen können.
Ich fühlte mich auch einsam, wenn du am Sonntag nach dem Frühstück gingst und erst abends nach Hause kamst. Ich habe fast nie etwas gesagt, um dir die Freiheit zu lassen. Ich wusste, wie wichtig es für dich ist, deine Freunde zu treffen.“
„Glaubst du wirklich, dass ich glücklicher bin als du? Ich habe im letzten Monat alles verloren. Ich suche momentan keine Arbeit.“
„Was sagt sie denn, wenn du nicht arbeitest?“
„Das ist ihr egal. Wir sind eine andere Mentalität. Sie kann gehen oder bleiben. Vielleicht wird sie in ein paar Monaten gehen.“
„Sie geht bestimmt nicht mit dir in die Türkei.“
„Das stimmt. Mit welchem Recht bist du zu mir gekommen?“
„Ich hatte eine Woche nichts von dir gehört.“
„Ich wollte es dir sagen, aber dein Bruder war da.“ Dann sagte er: „Sie ist sehr intelligent. Du hattest jeden Tag nach der Arbeit schlechte Laune. Im Moment denke ich gar nichts. Ich will mit meiner Mentalität zusammen sein. Du hast alles falsch gemacht.“
„Meine Familie weiß nicht, dass du eine neue Freundin hast.“
„Danke.“
Ich wollte wissen, wie er die Wohnung gefunden hatte und ob er oder das Amt sie bezahlte. Er war sauer über die Fragen und beantwortete sie nicht.
Ich sagte: „Ich muss das wissen, weil wir noch verheiratet sind.“
„Du denkst nur ans Geld.“
„Geld ist total unwichtig.“
Das Geld von seinem Grundstücksverkauf war sicher schon aufgebraucht: Er hatte einige Möbel gekauft, eine Waschmaschine, einen Fernseher, Geschirr, er musste essen, er rauchte. Ansonsten musste ich ihm bis zur Scheidung Trennungsgeld zahlen.
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