An diesem Abend schlugen die Männer das Lager an einer kleinen Lichtung im Wald auf. Isabell schlief in einem eigenen Zelt in der Mitte des Lagers. Lord Leichester war weiterhin sehr um ihre Sicherheit besorgt. Deshalb suchte Isabell ihn an diesem Abend auf. Er stand am Rande der Lichtung und starrte nachdenklich in die Nacht hinaus.
„Isabell?“, fragte er verwundert. „Was macht Ihr denn so spät noch hier draußen? Ihr solltet Euch von der beschwerlichen Reise erholen und nicht den Schutz des Lagers verlassen.“
Isabell sah sich verunsichert um. „Edward?“ Sie blickte ihm tief in die Augen und flüsterte: „Sind wir in Gefahr?“
Lord Leichester drehte sich zu ihr. Er legte seine großen Hände auf ihre zarten Schultern. „My Lady, ich habe meine fähigsten Männer auf diese Reise mitgenommen, damit wir sicher nach Dunley Castle kommen. Sorgt Euch nicht, in zwei Tagen haben wir unser Zuhause erreicht.“
Er zwang sich zu einem Lächeln, um die junge Frau nicht weiter zu verunsichern, doch Isabell spürte, dass er etwas vor ihr verbarg. Ebenso unsicher wie zuvor zog sie sich in ihr Zelt zurück.
Lord Leichester blieb am Rande der Lichtung stehen und starrte weiter in den dunklen Wald. Auf einer so langen Reise lauerte überall Gefahr und er wusste das. Einer seiner Männer trat an ihn heran. Erwartungsvoll sah er den Mann an, doch dieser schüttelte den Kopf.
„Keine Spuren, my Lord. Wir haben nichts gefunden.“
Lord Leichester klopfte ihm auf die Schulter und nickte. „Gut, das ist sehr gut. Dann schaffen wir es vielleicht ohne Zwischenfall zurück.“ Er murmelte noch leise vor sich hin, als er ins Lager zurückging und sich ebenfalls zur Ruhe legte.
Der Vollmond tauchte diese Nacht in einen fahlen Schein.
Isabell konnte in dieser Nacht kaum ein Auge zumachen. Angestrengt dachte sie über Lord Leichesters Worte nach und auch über die Geschichten, die sie als Kind gehört hatte. Wurden sie möglicherweise verfolgt? Je länger Isabell darüber nachdachte, desto mehr bereute sie, sich nicht mehr gegen diese Verbindung gewehrt zu haben. Möglicherweise hätte sie ihren Vater davon überzeugen können, erst im Frühjahr zu reisen, hätte er geahnt wie gefährlich die Reise wäre. Vorsichtig zog sie den kleinen Dolch aus ihrem Stiefel. Nachdenklich starrte sie ihn an. Da hörte sie plötzlich ein Geräusch vor ihrem Zelt. Sie zog ihren Umhang fest über die Schultern und setzte die Kapuze auf, den Dolch hielt sie fest in der Hand. Dann schlich sie leise aus ihrem Zelt und sah sich um. Im schwachen Schein des Feuers erkannte sie eine der Wachen mit geschlossenen Augen an einen Baumstumpf gelehnt. Der Wind blies eisig in ihr Gesicht. Isabell steckte den Dolch zurück in ihren Stiefel. Die junge Frau wollte gerade wieder ins Zelt zurück, als sie etwas im Gebüsch hinter der schlafenden Wache erblickte. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Im nächsten Moment zuckte sie zusammen. Aus dem Unterholz sprang ein großer Mann mit langem Haar. Isabell stieß einen hellen Schrei aus. Sofort hielt sie sich die Hand vor den Mund. Sie erstarrte, als immer mehr Männer aus dem Dickicht kamen. Alarmiert durch ihren Schrei stürmten Leichesters Männer zu ihren Waffen.
„Zu den Waffen! Das Biest!“, rief einer der Männer.
Isabell blieb das Herz stehen. Wie angewurzelt stand sie vor ihrem Zelt. Um sie herum verwandelte sich das Lager innerhalb von Sekunden in ein blutgetränktes Schlachtfeld. Die Highlander schlugen ohne Gnade auf die Männer von Lord Leichester ein und töteten einen nach dem anderen. Die Männer brüllten. Die Verwundeten schrien vor Schmerzen auf. Isabells Augen waren von Angst geweitet, ihr Atem ging schnell und ihr Herz raste. So eine Grausamkeit hatte die junge Lady noch nie zuvor in ihrem Leben miterlebt. Unfähig, sich zu bewegen, stand sie wie gelähmt vor ihrem Zelt. Plötzlich wurde Isabell am Arm gepackt.
„Schnell! Ihr müsst fliehen!“
Es war Lord Edward. Sein Gesicht war blutverschmiert und seine Stimme donnerte durch die Schreie der Männer.
„Isabell! Steigt sofort zu Richard auf das Pferd!“
Immer noch unfähig, sich zu bewegen, starrte sie ihn entsetzt an. Da packte Lord Edward sie und hob sie zu seinem Sohn aufs Pferd.
„Reite so schnell du kannst. Blick nicht zurück, Sohn! Rettet euch!“
Richard tat, wie ihm sein Vater befahl und trieb das Pferd an. „Haltet Euch gut fest, Isabell!“, rief er ihr zu.
Isabell schlang ihre Arme um seine Taille. Ihr Blick haftete immer noch an den kämpfenden Männern. Ihre vor Angst geweiteten Augen waren mit Tränen gefüllt. Richards Stimme hallte wie durch eine Nebelwand gedämpft zu ihr durch. Ihre Finger krallten sich panisch in seinen Umhang. Richard war noch nie ein mutiger Mann gewesen. Das wusste auch sein Vater. Er hatte noch nie gekämpft, geschweige denn einen Mann verwundet oder sogar getötet. Lord Leichester sah die Angst in den Augen seines Sohnes. Er wusste, welches Schicksal ihn ereilen würde, sollte er nicht fliehen, denn er wusste genau, worum es hier ging. Unermüdlich suchte sein wachsamer Blick die wütenden Angreifer nach einem bestimmten Mann ab. Doch er blieb erfolglos.
Richard trieb das Pferd so schnell er konnte durch den Wald. Weg von dem Gemetzel. Isabell hatte alle Mühe, sich an ihm festzuhalten. Immer noch hörte sie die eisernen Klingen und Schreie der Männer. Der eisige Wind ließ jegliches Gefühl aus ihren Fingern weichen. Ihr Gesicht schmerzte vor Kälte und Tränen liefen ihr über die Wangen. Was passierte hier gerade? Isabell schloss vor lauter Entsetzen ihre Augen und lehnte ihren Kopf ganz nah an Richards Schultern. Sie versuchte die Schreie der Männer auszublenden, doch sie gingen ihr durch Mark und Bein. Tränen liefen der jungen Lady über die Wangen, während sie ihr Gesicht in Richards Umhang vergrub. Der junge Lord bemerkte all dies nicht. Er hielt sich panisch an den Zügeln fest und trieb das Pferd weiter an. Sie streiften Büsche und Äste. Die kahlen Zweige zerkratzten ihnen bei der Flucht durch den dichten Wald die Hände und die Gesichter. Es kam Isabell wie eine Ewigkeit vor bis sie endlich den Weg erreicht hatten. Doch plötzlich scheute das Pferd und blieb abrupt stehen. Isabell stockte der Atem. Richard erstarrte.
Vor ihnen baute sich ein mächtiger Krieger auf. Mit einem Mark durchbohrenden Kampfschrei war er vor das Pferd gesprungen. In einer Hand hielt er ein breites Schwert, in der anderen eine Axt. Für einen kurzen Moment war es um sie totenstill. Isabell starrte mit weit aufgerissenen Augen an Richard vorbei auf den Mann, der nun wie ein Bär vor ihnen stand. Voller Angst umfassten Isabells Hände Richards Oberarme.
„Richard“, flüsterte sie. Ihre Stimme drohte vor Furcht zu versagen.
Obwohl der Angreifer kein Wort sagte, sprachen seine Augen Bände. Isabell erkannte puren Hass in seinen Augen und befürchtete das Schlimmste. Ohne Vorwarnung machte er einen Satz auf das Pferd zu und holte zu einem Schwerthieb aus. Die Klinge traf Richard am Oberschenkel. Dieser schrie vor Schmerz. Das Pferd stieg vor Schreck auf und Isabell spürte wie sie den Halt verlor. Sie streckte die Arme Hilfe suchend nach Richard aus. Er drehte sich zu ihr um, doch Isabell war bereits außer Reichweite seines Armes. Als Isabell unsanft am Boden aufkam, verschwamm alles um sie herum. Ein unbeschreiblicher Schmerz breitete sich in ihrem Körper aus und sie sah nur mehr Umrisse über sich. Der Angreifer schien näher zu kommen und Richard drehte sich wieder nach vorne.
„Richard!“, keuchte sie mit zitternder Stimme. Isabell bekam kaum ein Wort heraus. „Hilf mir!“, flüsterte sie voller Angst.
Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln. Ihr Verlobter warf noch einmal einen Blick zu ihr, trieb dann aber das Pferd an. Übermannt von der Angst und dem Schmerz jagte er sein Pferd an dem Highlander vorbei. Für ihn zählte jetzt nur noch eines, sein Leben zu retten. Was aus Isabell wurde, kümmerte ihn im Angesicht des Todes nicht. Die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen.
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