Die speziell im ICD10 aufgeführte Agoraphobie (F40.0) ist eine Erkrankung, bei der die Betroffenen Angst haben, sich aus ihrer gewohnten engeren Umgebung fortzubewegen. Diese Menschen meiden Menschenansammlungen, Läden und große Plätze oder haben Angst, allein zu verreisen. Warum wird nicht auch die Klaustrophobie aufgeführt? Bei sozialen Phobien (F40.1) besteht die Angst, mit anderen Menschen in bestimmten Situationen zusammenzukommen, sodass diese möglichst vermieden werden, z. B. bei Feiern, Veranstaltungen oder beruflichen Besprechungen. Spezifische Phobien (F40.2) richten sich auf bestimmte Situationen (Höhe, Dunkelheit, Donner, geschlossene Räume, Fliegen) oder Objekte (z. B. Mäuse, Spinnen, Blut). Besteht eine große Angst, lässt sich diese aber keiner konkreten Situation oder Objekten zuordnen, spricht man von einer Generalisierten Angststörung (F41.1).
Insgesamt ist diese Einteilung noch sehr grob und unvollständig und es ergeben sich daraus noch keine umfassenden Therapieansätze für die Ängste insgesamt. Ist die Psychotherapie bei den Spezifischen Phobien noch sehr erfolgreich, insbesondere mittels Expositionstherapie, sind die Therapien sozialer Phobien schon weniger erfolgreich und bei der Generalisierten Angststörung wirkt wenig, will man sich nicht mit Psychopharmaka zuballern.
Besonders hart betroffen sind Menschen, die gleich von mehreren Ängsten beherrscht werden. Wer Todesangst vor dem Virus hat und zugleich um den Fortbestand seines Betriebes bangt, sitzt in einer besonderen Zwickmühle. Ebenso trifft es Menschen, die sowieso schon unter psychischen Vorerkrankungen leiden. Depressive Menschen etwa gehen aus Angst vor Ansteckung nicht zum Therapeuten und leiden so verstärkt.141 Vera Lengsfeld betonte, dass „viele ehemalige Patienten, aber auch Nicht-Patienten, Leute, die nie Corona hatten, unter Angstzuständen, Angstattacken leiden und behandelt werden müssen, wegen Schlaflosigkeit, Angstattacken und so weiter“.142 Andere werden nicht an Corona krank, entwickeln jedoch Waschzwänge insofern, als sie „ständig ihre Hände waschen, ständig duschen, Angst davor haben, andere Menschen zu treffen, dass es Leute gibt, die ihre Wohnungen kaum noch verlassen“.143 Der ärztliche Direktor des Lukaskrankenhauses Bünde, Ulf Schmerwitz, sagte: „Die undifferenzierte Betrachtung der Infektionszahlen schürt Ängste in der Bevölkerung, die schwerwiegende Auswirkungen haben können, wie wir in der Praxis täglich beobachten.“ So sagen Patienten Operationen ab oder kommen mit Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs verspätet oder gar nicht in ein Krankenhaus.144 „Wir sehen zunehmend Menschen mit schweren Erkrankungen, die bei rechtzeitiger Behandlung möglicherweise geheilt hätten werden können. Wir sehen zudem ältere Menschen mit Depression und Kinder und Jugendliche mit Angststörungen.“145
So kommen in der Coronazeit viele Ängste, die lange im Untergrund lagen, weil sie nie bearbeitet wurden, mit ans Tageslicht. Der psychische Druck ist so groß, dass die Energie, sie weiter zu verdrängen oder Situationen zu vermeiden, nicht mehr vorhanden ist. So sind plötzlich alle Ängste da, drängen ans Tageslicht und die Menschen leiden und werden krank.
Hierbei sollte man jedoch nicht verkennen, dass trotz allen Leidens die Coronazeit auch eine Chance sein kann, unsere Ängste endlich aufzuarbeiten. Verdrängen klappt jetzt nicht mehr. Und so bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder wir erliegen der Angst, werden krank und begehen vielleicht sogar Selbstmord. Oder wir gehen die Sache jetzt endlich an, stellen uns unseren Ängsten, bearbeiten sie und überwinden sie. Als Resultat kommen wir dann zu innerem Wachstum, innerer Ruhe und machen einen großen Sprung zu einem selbstbewussten entwickelten Menschen mit Ich-Stärke, Mut und Tapferkeit. Und wenn genug Menschen diesen Weg gehen, dann hilft das nicht nur jeder und jedem Einzelnen, dann kann auch keine Regierung diese Menschen mehr erfolgreich unterdrücken. Wie solch eine Überwindung der Angst geschehen kann, schauen wir uns in Kapitel 10 näher an.
126SAVONAROLA 1496.
127WOLF 2018: 7.
128HAGEN 2020: 17.
129RIEMANN 2019: 8.
130OTTE 2020.
131HÜTHER 2018: 23.
132HAGEN 2020: 27.
133REDAKTION EIGENTÜMLICH FREI 2020.
134REUTH 2020.
135REUTH 2020.
136HAGEN 2020: 34.
137MAIER 2020.
138DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION 2015.
139DISSE 2015: 149.
140HELL 2018: 201.
141A. A. 2020zzzh.
142LENGSFELD & LILGE-STODIECK 2020.
143LENGSFELD & LILGE-STODIECK 2020.
144NIEDER-ENTGELMEIER 2020.
145NIEDER-ENTGELMEIER 2020.
6. Psychologie der Massen
„Wenn fünfzig Millionen Menschen etwas Dummes sagen,
bleibt es trotzdem eine Dummheit.“
Anatole France, französischer Literaturnobelpreisträger (1844–1924).
„Die Leute sind gar nicht so dumm,
wie wir sie durchs Fernsehen noch machen werden.“
Hans-Joachim Kulenkampff,
Schauspieler und Fernsehmoderator (1921–1998).
Wir haben bisher die Angst bei der einzelnen Person betrachtet. Was geschieht aber, wenn diese bei großen Gruppen auftritt? Die erste bahnbrechende Forschung dazu hat der Franzose Gustave Le Bon gemacht, der 1911 seine „Psychologie der Massen“ veröffentlichte.
In der Masse verschwinden bis zu einem gewissen Grad das Ich und die persönliche Individualität der Emotionen des Einzelnen. So versucht die Massenpsychologie, die überraschende Tatsache zu erklären, dass das „Individuum unter einer bestimmten Bedingung ganz anders fühlt, denkt und handelt, als von ihm zu erwarten stand, und diese Bedingung ist die Einreihung in eine Menschenmenge, welche die Eigenschaft einer psychologischen Masse erworben hat“.146 Auf die aktuelle Situation übertrug dies der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Dr. Hans Hopf: „Irrationale Ängste können aber auch kollektiv auftreten. Die Angst vor dem Coronavirus bewirkte Hamsterkäufe, von Nudeln, Hefe, bis hin zu Toilettenpapier.“147
Die Menschen vereinigen sich dabei zu einer eigenen Form der psychologischen Einheit. Le Bon schreibt: „Das Überraschendste an einer psychologischen Masse: welcher Art auch die einzelnen sein mögen, die sie bilden, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigungen, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde … Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht, die sich für einen Augenblick miteinander verbunden haben, genauso wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden.“148
Le Bon sah drei Ursachen für dieses merkwürdige Phänomen: „Die erste dieser Ursachen besteht darin, dass der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich allein notwendig gezügelt hätte. Er wird ihnen umso eher nachgeben, als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, das die einzelnen stets zurückhält, völlig verschwindet.“149 Der Einzelne geht also so in der Masse auf, dass ihm eigene Aktionen nicht mehr zugeschrieben werden können. Er ist in der Masse versteckt, ist gesichtslos. Und dies erst recht, wenn sein Gesicht auch materiell noch mit einer Maske verdeckt ist. Er ist dann kein Individuum mehr, sondern nur noch ein Teil des Ganzen, das sich selbst nicht mehr als verantwortlich für seine Taten sieht. Besonders die Zwanghafte und die Depressive Persönlichkeit können leicht in solchen Massen gefangen sein, die Histrionische nur für eine gewisse Zeit. Gefeit ist am ehesten die Schizoide Persönlichkeit.
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