Die depressive Form ereilt nicht nur einzelne Menschen, sondern kann ganze Gesellschaften erfassen. Nach Rassenunruhen kam es vor, dass wildfremde Menschen, die nie einem anderen etwas Böses getan hatten, sich vor dunkelhäutige Menschen zu Boden warfen und ihre Füße küssten. In Deutschland entschuldigen sich Personen für die Nazigräuel, die geschahen, als sie noch gar nicht geboren waren. In den USA schämen sich Weiße ihrer Hautfarbe und reißen Kolumbusdenkmäler ein und in England schämen sich Menschen ihres einstigen Empires, das schon Jahrzehnte nicht mehr besteht.
Dies alles geschieht aus einer Ich-Schwäche, gekoppelt mit Schuldgefühlen, Selbsthass und der Angst, nicht dazuzugehören, und drückt sich in Scham aus. „Scham ist der emotionale Begriff für den Verstoß gegen die bejahten Erwartungen der Mitmenschen“.120 Und davor hat die Depressive Persönlichkeit die größte Furcht.
In der Coronazeit sind diese Menschen daher artige Individuen, die tun, was man ihnen sagt. Und wie der Zwangshafte Mensch neigen sie zur Denunziation, wenn jemand aus der Gruppe ausschert. Was wollen Regierungen mehr als viele von solchen noch nicht aufgewachten Untertanen.
Selbst wenn man den Coronamaßnahmen kritisch gegenübersteht und der Depressive Persönlichkeitsanteil gering ist, fühlt es sich komisch an, wenn man anders ist als die anderen Menschen. Eine Frau schrieb dementsprechend: „Mir passiert es auch öfter, dass ich in einen Laden gehe und erst dann merke, dass ich die Maske im Auto vergessen habe, bspw. wenn ich nur schnell eine kleine Besorgung machen möchte. Mir fällt es dann auf, weil mich alle im Laden anschauen wie eine Aussätzige. Komisches Gefühl.“121 Das lässt sich auf Dauer nur aushalten, wenn die Persönlichkeit weit entwickelt ist.
4.4 Die Schizoide Persönlichkeit
„Alles mag man fürchten, nur nicht, was man bekämpft.“
Bettina von Arnim, Schriftstellerin (1785–1859).
„Die Zukunft gehört denen,
die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben.“
Eleanor Roosevelt, amerikanische Politikerin (1884–1962).
Wilhelm Reich, Verfasser des Werkes „Massenpsychologie des Faschismus“, schrieb 1933: „Die menschliche Struktur ist vom Widerspruch zwischen Freiheitssehnsucht und Freiheitsangst beseelt.“122 So ist die Schizoide Persönlichkeit konträr zur Depressiven Persönlichkeit und möchte eigenständig und autark leben, ohne von einer Gruppe gesteuert zu werden. Sie ist ein ausgesprochener Individualist und ist sich selbst genug. Freiheit und Unabhängigkeit sind das höchste Gut. Vor dem Aufgehen in der Masse besteht eine große Angst, es käme für sie dem psychologischen Tod gleich. Sie sind sich ihres Individuums bewusst und vertrauen auf sich selber. Ihrer Ich-Stärke sind sie sich teilweise bewusst. Sich von anderen Menschen oder einer Gruppe etwas vorschreiben zu lassen, kommt für sie überhaupt nicht infrage, sie bestimmen selber. Lange Diskussionen oder die Einschaltung von Betriebsräten, Interessenvertretern oder Elterninitiativen mit viel Gelaber sind für sie reine Zeitverschwendung, wie Gruppenarbeiten in der Schule. Wenn eine Aufgabe ansteht, wird sie auch ohne dies alles allein gelöst. Bedeutet dem Depressiven Nähe Sicherheit und Geborgenheit, so dem Schizoiden Bedrohung und Einschränkung seiner Autarkie; bedeutet dem Depressiven Distanz Bedrohung und Alleingelassenwerden so dem Schizoiden Sicherheit und Unabhängigkeit.123
Aus Film und Fernsehen kennen wir diesen Menschentyp als heroischen Freiheitskämpfer wie in „Braveheart“ (1995) und „Der Patriot“ (2000), beide mit Mel Gibson, „300“ von Zack Snyder (2006), „El Cid“ mit Charlton Heston (1961), „Andreas Hofer“ mit Tobias Moretti (2002) oder als Kämpfer für Wahrheit und Wissenschaft wie in „Agora – Die Säulen des Himmels“ mit Rachel Weisz (2009).
Die Schizoide Persönlichkeit ist der Mensch, dem, wie Fechtner schreibt, nur die Wahl bleibt „zwischen waldgängerischer Kontemplation oder Radikalisierung zum Systemfeind“.124 In gesellschaftlichen Krisenzeiten reagieren die Menschen dieser Persönlichkeit zuerst in zwei unterschiedlichen Weisen. Die einen flüchten erst einmal vor der Realität und verdrängen die Probleme. Sie kümmern sich um ihren eigenen Kram, gehen lieber wandern und posten Fotos von Blümchen und süßen Kätzchen; so lange, bis sie die Realität einholt. Dann entwickeln sie sich auch sehr leicht zum zweiten Typ und bei ihnen wächst die Wut. Sie werden in Krisen als Erste gegen die Verursacher vorgehen, protestieren und demonstrieren.
Die Schizoide Persönlichkeit findet sich in der Coronazeit vorwiegend in den Widerstandsgruppen. Sie trauen den öffentlich-rechtlichen Medien nicht mehr, sondern beschaffen sich selber die grundlegenden Informationen und bilden sich selbst ihre Meinung. Die Zahl der Internetgruppen, in denen sie sich vernetzen, wächst und wächst und ihre differenzierten Intelligenzen verbinden sie mehr und mehr zu einem kohärenten Netz der Zukunft. Vor ihnen haben totalitäre Systeme daher Angst. Aber letztendlich können sie sie nicht aufhalten. Ein König ließ einmal, so eine Geschichte, alle potenziellen Nachfolger umbringen, damit er möglichst lange auf dem Thron bleiben könne. Er fragte, seinen Hofnarren, wen er noch umbringen müsse, um sicher zu sein. Dieser antwortete: „Du kannst alle umbringen, nur deinen Nachfolger nicht!“
Als Menschen der Tat sind die Schizoiden Personen für bestehende Systeme tatsächlich die größte Gefahr. Die Maxime der freien Friesen „Lever dood as Slav!“, ist auch die ihre. Daher versuchen Regierungen, ihrer durch Demonstrationsverbote, Meinungsunterdrückung und Verunglimpfung Herr zu werden. Das gelingt eine Zeit, steigert aber die Wut immer mehr, bis es schließlich zu hoffentlich friedlichen Revolutionen kommen kann.
Angstfreiheit besteht übrigens genau auf der Mitte der vier Grundängste (siehe Bild Seite 65). Riemann schreibt, es wäre „als ein Zeichen von seelischer Gesundheit anzusehen, wenn jemand die vier Grundimpulse in lebendiger Ausgewogenheit zu leben vermöchte – was zugleich bedeutete, dass er sich auch mit den vier Grundformen der Angst auseinandergesetzt hat“.125 Dies sind dann stabile Menschen mit Verstand und Charakterstärke, auf die ein demokratisches Staatswesen angewiesen ist. Autoritäre Staaten schüren Ängste, damit die Menschen ihre stabile Mitte nicht finden, um die Menschen lenken zu können. Demokratien erhalten sich dagegen genau durch diese selbstbewussten, von Liebe, Moral, Mitgefühl und Vernunft gesteuerten mutigen Menschen. Wir werden auf diese Krieger des Lichts in Kapitel 9 besonders zu sprechen kommen.
Welche Persönlichkeiten offenbaren sich nun in einem selbst allgemein und jetzt besonders deutlich in der Coronazeit? Wahrscheinlich von allen vier etwas. Oder ist eine Angst dominant? Dann keine Angst bitte. Jeder Mensch hat es in der Hand, sich zu entwickeln (Kapitel 10). Durch selbstständiges Nachdenken und den Entschluss, sich seinen Ängsten zu stellen, werden die wahren Helden geboren.
69EYSENCK 1975, 2005; EYSENCK & EYSENCK 1987.
70ALLPORT & ODBERT 1936; JUNG 1921; HASSELMANN & SCHMOLKE sehen sieben archetypische Urängste.
71RIEMANN 1961.
72RIEMANN 2019: 11.
73SCHILLER 1800.
74RIEMANN 2019: 126.
75RIEMANN 2019: 126.
76RIEMANN 2019: 122.
77RIEMANN 2019: 123.
78RIEMANN 2019: 127.
79RIEMANN 2019: 125.
80RIEMANN 2019: 123-124.
81RIEMANN 2019: 125.
82Mitteilung von Juliane S.
83RIEMANN 2019: 142.
84RIEMANN 2019: 143.
85RIEMANN 2019: 142–143.
86RIEMANN 2019: 144.
87RIEMANN 2019: 145.
88RIEMANN 2019: 175.
89RIEMANN 2019: 144.
90RIEMANN 2019: 143.
91Mail von Heidi Salomon vom 05.09.2020.
92RIEMANN 2019: 144.
93RIEMANN 2019: 131.
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