»Also, mein Freund, nach Gesturi könnt ihr zu Fuß gehen, dazu braucht man kein Auto. Man muss immer wachsam sein, beobachten, rufen, die Herde weitertreiben, den Hund führen …« Während er so vor sich hin brabbelt, fällt mir auf, dass ich seit mehr als einer Stunde fast immer ein Glas in der Hand halte. Zuerst Mirto , den sardischen Myrtenlikör, dann den Nuraghe und jetzt fil’e ferru, ich schütte in einem fort etwas in mich hinein. Heute Abend könnte ich Bäume umarmen, hätte ich nicht Claudios Worte im Ohr: »Zu Fuß nach Gesturi.« Was soll das heißen? Schließlich hat er doch gesagt, er würde sich das Auto seines Bruders leihen. Er sieht mich nicht mehr an und summt jetzt leise »My way«. Den Song hat er schon auf dem Rückweg vom Flughafen gepfiffen.
Schon steht er wieder auf. Mit der halbleeren Flasche fil’e ferru schwankt er hin und her. Er geht auf die Mauer gegenüber zu und bedeutet mir mitzukommen. »Sing mit, dieses Lied müssen wir der verblassten Wandfarbe widmen, hicks … and mooore, much mooore than thiiis …«
Jetzt singe auch ich den Klassiker von Frank Sinatra, peinlich nur, dass ich alles bis auf den Refrain vergessen habe. Was würde Jutta sagen, wenn sie mich in diesem Augenblick sehen könnte? Die nächsten Teile unserer Unterhaltung singen wir.
»Was meinst du mit zu Fuß, Claudio?«
»Zu Fuß, zu Fuß … dass ich euch zu meinem Bruder bringe, kannst du vergessen … das habe ich … nur so gesaaagt … ich wohoollte nuur … dein Weib beruhigen … la-la-la-la.«
»Aber du hast es mir versprochen!«
» Ich muss morgen mit dem Traktor zum Flughafen zurüüück … Deshalb zu Fuß, zu Fuß, zu Fuuuß … geht ihr nach Geeehee-sturiiiii!«
In einem kurzen Anfall von Nüchternheit frage ich Claudio, warum er es sich anders überlegt hat. Er antwortet mir nicht, sondern beschränkt sich darauf, mir unverständliches Zeug zu erzählen.
»Claudio, du kannst uns morgen nicht zu Fuß losschicken … Du hast versprochen, uns auf dem Traktor zu fahren, und das wirst du auch tun!«
Ganz plötzlich wird auch er in seinem Rausch klarsichtig. Er setzt sich wieder hin und schaut mich treuherzig aus großen Augen an.
»Ihr werdet auf Maultieren zu meinem Bruder kommen, ich leihe euch meine beiden Esel.«
»Waaas???«
»Allerdings nur, wenn mir Jutta einen kleinen Gefallen erweist. Nein, nicht das, was du denkst … Ich will nichts von ihr. Ich habe vorhin im Stall beobachtet, wie die Ziegen deine Frau angehimmelt haben, als sie den Esel gestreichelt hat … Bruno, das war Liebe auf den ersten Blick. Von mir lassen sich die Ziegen nicht mehr anfassen, nicht mal von meiner Annuzza . Aber ich bin sicher, dass sie sich von Jutta alles gefallen lassen.«
»Und du willst, dass ich Jutta überrede …«
»Genau. Ein Liter würde uns schon reichen. Dafür leihe ich euch meine Esel. Mit ihnen kommt ihr nach Ussana, und dort lasst ihr sie bei meinem Bruder … Also? Einverstanden?«
Ich verfluche den Tag, an dem ich ans Telefon gegangen bin! Ich verfluche den Tag, an dem ich versprochen habe, Trauzeuge meines Cousins zu werden! Verflucht sei Claudio! Und zum Teufel mit diesem Donnerstag.
»Wie heißen die Esel?«, seufze ich.
»Fil’e und Ferru, wie der Schnaps. Du wirst sehen, der eine ist so kräftig wie Eisen und der andere dünn wie ein Draht.«
2. Tag – Freitag
Der Morgen
Jutta
Schlagartig erkenne ich dieses Geräusch wieder. Claudio hat seinen Traktor angeworfen.
Ich rappele mich auf und muss meine Knochen erst einmal sortieren. Meine Kleider sind völlig zerknittert, mein Gesicht möchte ich mir lieber nicht vorstellen, von meinem Seelenleben ganz zu schweigen.
»Bruno, aufstehen, Claudio wartet auf uns.« Es war zu erwarten, dass es nicht leicht sein würde, ihn zu wecken, aber tatsächlich ist es vollkommen unmöglich. Ich greife zu härteren Mitteln und tätschel seine Wange. Schließlich ziehe ich an seinen Beinen, versuche seinen Oberkörper aufzurichten, hebe ein Augenlid, um das Licht eindringen zu lassen. Nichts! Ich habe keine Chance, Bruno schläft, er befindet sich im Koma.
Das Traktorengeräusch wird leiser, und Panik befällt mich. Ich renne nach draußen, Bruno fällt unsanft auf das Strohlager zurück, was ihn jedoch nicht zu stören scheint. Ganz sanft verfärbt sich das nächtliche Schwarz in morgendliches Hellgrau, es muss sehr früh sein, zu dunkel noch, um auf meiner Uhr die Zeit erkennen zu können. Ich blicke in Richtung Geräusch und sehe die Rückscheinwerfer auf dem schmalen Weg. Hoffentlich holt Claudio seinen Bruder.
Im Steinhaufen herrscht rege Emsigkeit, aber irgendwie fehlt mir jegliche Kraft, mich jetzt mit Anna zu unterhalten. Was gäbe ich für einen Kaffee, dann wäre ich ein anderer Mensch. Ich geniere mich jedoch für mein Aussehen. Mit meinen Fingern versuche ich mein wirres Haar zu glätten und entdecke zu meiner Freude einen Brunnen. Das Geräusch der Wasserpumpe lockt Anna aus ihrem Haus.
» Buon giorno, Signora Udda . Haben Sie gut geschlafen? Brauchen Sie etwas?«
Ein wenig erfrischt gehe ich ihr mit freundlichem Lächeln entgegen. Sie reicht mir eine Tasse, gierig trinke ich den starken, ungesüßten, heißen Kaffee.
Dann winkt Anna mir, ich solle ihr folgen. Wir gehen zu den Wildschweinen und Ziegen. Anna öffnet die wackelige Gattertür und wartet, bis ich durchgegangen bin. Dann schließt sie hinter mir die Tür. Ich stehe mit meinen Sandaletten in der Scheiße.
Wie tief, werde ich gleich erfahren. Anna reicht mir einen umgedrehten Blechkübel und bedeutet mir, mich zu setzen. Dann fängt sie in Windeseile eine Ziege, die sich mit allen Kräften wehrt. Dieses zappelnde Tier drückt sie mir zwischen die Schenkel und nimmt meine Hand. Ich soll die Ziege festhalten. Ein kleinerer Blechkübel wird unter sie gestellt, und Anna zeigt mir, wie ich das dicke Euter leeren soll.
»Anna, ich kann das nicht!«, versuche ich sie zu überzeugen, aber das scheint ihr egal zu sein, denn sie schnappt sich bereits die nächste Ziege. Meine kleine Ziege schreit nach Kräften, und ich kann es ihr nicht verdenken. Wieso soll ich eine Ziege melken, wer hat sich denn das einfallen lassen?
Anna ist erbarmungslos und ruft zu mir herüber, ich solle loslegen. Offenbar soll ich die ganze Melkerei übernehmen, sie hätte es mir jetzt gezeigt, und nun schaut sie sich mal an, wie es klappt.
Es geht überhaupt nicht! Die Ziege mag nicht, wie ich an ihrem Euter herumdrücke.
Anna lacht und nimmt meine Finger und streicht mit sanftem Druck von oben nach unten über die Zitze. So lange, bis ein kleiner, aber pfeilgerader Strahl in den Eimer schießt. Nun soll ich es ihr gleichtun. Ich versuche es, aber nichts kommt raus. Wieder nimmt sie meine Hand und führt sie. Milch läuft in den Eimer, ich versuche es alleine, und siehe da, ein bisschen »strahlt« nach unten. Auch Anna strahlt und verlässt mich, um die Wildschweine zu füttern, die mittlerweile laut grunzen. Meine Ziege wird ruhiger, und fast bin ich etwas stolz auf mich, als sie mir plötzlich einen Tritt verpasst und mit einem Bocksprung aus meinen Armen springt und das Weite sucht. Ich rufe Anna, aber die lacht nur. Haha, sehr komisch, also versuche ich das dumme Tier wieder einzufangen, verliere dabei meine Schuhe, was auch schon egal ist. Ich traue mich nicht, nach unten zu sehen, denn das, was ich zwischen meinen Zehen spüre, spricht Bände.
Grotesk, wie ich einer Ziege gleich durch das Gehege hüpfe, um sie einzufangen.
Ich erwische ein Tier und schleppe es unter Geschrei zum Kübel. Als ich jedoch das Euter suche, stellt sich heraus, dass es ein Bock ist! Und der will absolut nicht gemolken werden.
Also veranstalte ich erneut das »Fang die Ziege«-Spiel, um endlich eine zu erwischen, die ich austricksen kann, indem ich mich blitzartig umdrehe, als sie ahnungslos hinter mir steht. Ich umklammere sie fest mit meinen Schenkeln und rede beruhigend auf Bayrisch auf sie ein. »Blödes Muckerl, hoit halt still, i dua doch nix.« Bayrisch scheint sie zu mögen! Also rede ich weiter sanft mit ihr und stimme ein »Hiatamadl, mog i ned, hot koane dicken Wadln ned, i mog a Madl aus da Stod, was dicke Wadln hod« an. Eine bayrische Weise, der normalerweise ein ordentliches Jodeln folgt, was ich sicherheitshalber weglasse.
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