Langsam steige ich die Stufen zum Haus hinauf, da ich mir die Duftwolke dieses wunderbaren Schinkens nicht entgehen lassen will, der deutlich sichtbar auf dem Tisch hinter der Tür liegt. Jetzt verstehe ich. Verstehe, was Wörter wie Wärme, Aroma und Gastfreundschaft eigentlich bedeuten. Aber wenn man diese Wärme und diese Düfte nie erlebt oder nie aus der Nähe genossen hat, wird es schwer, sie in Worte zu fassen oder in einem Buch zu beschreiben. Seit heute Abend weiß ich auch, was »gute Laune« wirklich heißt. Vielleicht wird es mir sogar gelingen, ihr einige andere Begriffe wie Glück und Freude an die Seite zu stellen: das Glück einer unerwarteten Begegnung und das Vergnügen, Freundschaften zu schließen. Diesen Gedanken nachhängend, holt mich die Realität ein, als Anna das Geschirr abräumt und in die Küche bringt und Jutta wie von der Tarantel gestochen aufspringt und ihr hinterhereilt. Ich setze mich wieder zu Claudio, der sich inzwischen ein Glas von einem Schnaps mit dem seltsamen Namen »fil’e ferru« eingegossen hat und fröhlich weiterschwadroniert, als wäre nichts passiert.
Die Nacht
Jutta
Von Schlaf ist in dieser Nacht wenig die Rede, aber wieder viel von Wahrnehmung und Erwartungshaltung. Denn offensichtlich ist Brunos Eindruck von unserem ersten gemeinsamen Abend auf Sardinien ein vollkommen anderer als meiner.
Als ich völlig steif aus irgendeinem idiotischen Traum hochschrecke, liegt neben mir ein Stein. Immens schwer und unverrückbar.
Als Erstes versuche ich, das zentnerschwere Bein, das quer über mir liegt, loszuwerden. Danach muss ich den Stein um hundertachtzig Grad drehen. Warum männliche Betrunkene besonders anhänglich und liebebedürftig sind, habe ich nie verstanden.
Jedes Mal, wenn ich es fast geschafft habe, rollt Bruno mit einem Grunzen in seine vorherige Stellung zurück. Irgendwann gebe ich entnervt auf und krabbele auf allen vieren um ihn herum, um mich auf die andere Seite zu legen. Er jedoch dreht sich in diesem Moment auf den Rücken und breitet seine Arme nach rechts und links aus, so dass nun in diesem stockfinsteren, jämmerlich kalten Stall auf beiden Seiten kein Platz mehr ist. Ich rüttele ihn, fordere ihn auf, mir Platz zu machen, flüstere ihm direkt ins Ohr, schreie dann fast, er solle endlich rutschen! Nichts!
Mir ist übel, wie eine Fata Morgana taucht vor meinen Augen eine riesige Flasche Wasser auf. Ich wünsche mich in mein warmes, weiches, duftendes Bett in München. Gemütlich eingemummelt unter den Daunen, liebe ich es, zu jeder Jahreszeit mit offenem Fenster zu schlafen. Hier habe ich jetzt allerdings die Schnauze voll. Ich ziehe an der Decke, um wenigstens einen Zipfel abzubekommen, und schließlich gelingt es mir unter großen Mühen. Entweder die Ziegendecke oder gar keine, denke ich resigniert.
Jetzt tut mir die Hüfte weh, denn unter mir ist bis auf die dünne Lage Stroh nur der nackte Erdboden. Ich nehme meine Handtasche, schiebe sie unter mich und lege mich vorsichtig darauf.
Etwas darin ist ungemütlich hart, aber Sekunden später hat sich dieses Problem von selbst gelöst: Meine Sonnenbrille, die ich anscheinend nicht in ihr Etui zurückgelegt habe, zerbricht in ich weiß nicht wie viele Teile. Ich könnte auf der Stelle losheulen, meine schöne geliebte Designerbrille, passend zum cremefarbenen Röckchen!
Da ich sowieso nicht schlafen kann, überlege ich, was sonst noch alles in der Tasche ist. Mein Portemonnaie, das Flugticket, mein Hausschlüssel, ja, der ist auch unangenehm zu spüren, ein paar Lippenstifte. Man weiß ja nie, welche Farbe man gerade braucht. Ein Päckchen Papiertaschentücher, die sind weich, gottlob, meine drei Glückssteine, ohne die ich nie verreise, mein funktionsuntüchtiges Handy, Zahnseide! Augenblicklich bin ich hellwach. Wenn ich jetzt die Zahnseide finde, kann ich mir fast die Zähne damit putzen. Zumindest das Gröbste und Ekligste könnte ich aus meinem Mund entfernen und hätte sicher danach einen besseren Geschmack im Mund, weil sie gewachst und mit Menthol ist. Vielleicht hängt ja zwischen meinen Zähnen noch so ein Fischei, ganz zu schweigen von einem der toten Würmer, der sich an mein Zahnfleisch geklammert haben könnte. Nächtliche Geräusche sind furchteinflößend, und in diesem Moment bin ich dankbar, dass Bruno, obwohl nicht einsatzfähig, so doch neben mir liegt.
Bei Tagesanbruch werde ich ihn unsanft wecken und einen gebührenden Zirkus machen, nehme ich mir vor. Er wird Claudio veranlassen, uns zu seinem Bruder oder sonst wohin zu bringen. Ich will hier weder frühstücken noch länger Annas und Claudios Gastfreundschaft genießen. Davon habe ich genug.
Die Wärme und der Herzschlag eines Menschen, der einem nahe ist, können unendlich wohltun, und so einsam ich mich auch in dieser Situation fühle, lullt mich das rhythmische Tumtum, Tumtum unter seiner Brust ein. Ich lege meine Hand darauf und stelle mir vor, dieses kleine Herz mit meinen Fingern zu umfassen. Ich halte es umschlossen, so ist es sicher, muss sich nie mehr fürchten oder aufgeregt sein. Ich brauche dieses Lebenszeichen wie ein neugeborenes Tier die Mutterwärme. So schlafe ich endlich ein.
Fil’e ferru
Bruno
Claudio und ich bleiben allein. Er hat eine ziemliche Fahne, aber ehrlich gesagt fühle ich mich inzwischen auch schon etwas betrunken. Gerade eben hat mir Claudio ein erstes Gläschen fil’e ferru eingegossen …
»Vor vielen Jahren«, erzählt er, »als jeder Schafstall bereits ein Haus war und jede noch so kleine Ansammlung von Häusern schon ein Dorf, hatten alle eine Küche mit einer Feuerstelle wie dieser hier in der Mitte, um sich daran zu wärmen und zu kochen – damals gab es noch kein ›Barbecue‹ … Abends, wenn es dunkel wurde, nach einem langen Arbeitstag auf den Feldern, setzte sich auch meine Familie um das Feuer, und gleich nach dem Abendessen erzählte mein Vater sogenannte Kamingeschichten, contos de foghile . Papa erzählte uns diese kleinen Geschichten, um mich und meinen Bruder wach zu halten und um uns seine Lebensweisheiten zu vermitteln. Überwiegend handelten die Geschichten von schlauen Kerlen und Dummköpfen, unwichtigen Begebenheiten, seltsamen Ereignissen aus dem Dorf, aber es waren auch Geschichten zum Lachen.«
Ich höre ihm leidenschaftlich gern zu. Claudios Stimme, die selbst in seinem angeschlagenen Zustand eine besondere Stimmung erzeugt, weckt Gefühle in mir. War ich vorhin erschrocken, bin ich jetzt entspannt. Diese Farben, die Nuancen, die Pausen zwischen den einzelnen Worten versetzen mich in einen Zustand ungewöhnlicher Leichtigkeit und wachsender Euphorie.
Das letzte Mal war ich vor ungefähr zweiunddreißig Jahren so richtig betrunken. Das war am Meer, nach dem Abitur, und ich fühlte mich großartig: voller Selbstvertrauen, mutig, stolz, aber nicht müde.
Bekanntermaßen ist Absinth die stärkste Spirituose, die mit einem Alkoholgehalt von bis zu 90 Prozent erhältlich war, gefolgt von Centerbe, dem Kräuterlikör aus den Abruzzen, der es auf 70 Prozent bringt. Doch fil’e ferru ist mit seinen 40 Prozent auch recht stark. Das ist der sardische Grappa par excellence, dessen Name wörtlich übersetzt »Eisendraht« bedeutet. Der Name ist vor einigen Jahrhunderten entstanden und leitet sich von der Methode ab, mit der man während des Krieges die Destillierkolben für illegal gebrannten Schnaps versteckt hat. Die Flaschen wurden vergraben, und damit man später das Versteck wiederfand, steckte man einen Eisendraht in den Boden.
»Wenn du ein echter Hirte bist, musst du dich einmal im Monat besaufen«, sagt Claudio und gießt mir das inzwischen dritte Gläschen ein. Der Abend ist wirklich schön, am Himmel scheint still der fast volle Mond. Noch ist die Lage unter Kontrolle. Claudio steht vom Tisch auf, hält ein Stöckchen in die Glut und zündet damit seine Zigarette an. Einen Augenblick lang kann ich in der Nacht, die nur vom Mondschein und einer schwachen Neonröhre erhellt wird, seinen sympathisch wirkenden symmetrischen Schnurrbart erkennen, die runzelige Stirn und eine kleine Narbe an der Schläfe. Die Grillen zirpen ihre eintönigen Lieder – und wir haben Oktober! Nachtfalter und Mücken kreisen wie trunken um die einzige Lichtquelle hier, während ihre Schatten auf der Mauer sie verfolgen. Auf dem Grill knistert und knackt ein Feuer. Ein Geruch nach Pinienharz umgibt uns: Bevor sie gegangen ist, hat Anna Kartoffelscheiben mit Olivenöl und Oregano auf die Glut gelegt. Was will man mehr? Einige Minuten vergehen. Claudio setzt sich wieder hin, er sieht mir direkt in die Augen. Seine Stimmung wechselt ganz plötzlich: Er sprudelt eine Folge von scheinbar zusammenhanglosen Sätzen hervor, die jedoch einen Sinn ergeben.
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