Jenny Karpe
Zwei Ozeane auf Abwegen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Jenny Karpe Zwei Ozeane auf Abwegen Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Danksagung
Content Notes
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Impressum neobooks
Die Insel am anderen Ende des Ozeans verharrte wie ein ewiges Monument. Verwirrt musterte Kira die Gesteinsformation, die sie an einen Pilz erinnerte. Auf seinem Schirm ragten Häuser in den blauen Himmel. Das Meer rauschte unter ihr und einige Möwen kreischten, obwohl Kira keine sah. Die Sommerluft konnte nicht verhindern, dass sich eine Gänsehaut über ihren Körper legte. Eigentlich befand sich diese Insel doch längst auf dem Grund des Meeres. Sie war zerbrochen und versunken, als Kira ein kleines Mädchen gewesen war.
Langsam sah sie auf ihre Hände hinab. Winzig waren sie, speckig. Unter den Fingernägeln sammelte sich Sand. Ihre Füße steckten in staubigen, zerkratzten Lackschuhen. Einer ihrer Strümpfe hatte seinen Halt verloren und war wie eine alte Schlangenhaut hinabgerutscht.
Kira wurde heiß und kalt, ihre Kehle verengte sich. Warum war sie wieder acht Jahre alt?
»Da bist du!«
Sie fuhr herum und schnappte nach Luft, als ein dunkelhaariger Junge um ihren Hals fiel.
»Aaron!«, krächzte sie. »Was passiert hier? Warum sind wir wieder Kinder?«
»Du bist ein Kind«, lachte Aaron und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin schon zehn!«
Ihre Antwort war ein gequältes Lächeln. »Das ist nicht hilfreich.«
»Ich mache nur Spaß. Was ist los mit dir? Es ist doch alles normal. Oder immerhin ungefährlich.«
»Aaron«, knurrte sie kopfschüttelnd. »Wir waren bis eben erwachsen . Warum sind wir wieder hier?«
»Ich war hier noch nie«, gestand Aaron und machte eine Handbewegung, die beinahe einladend wirkte. »Erkennst du es nicht? Das ist nicht der Ausblick, den wir früher hatten. Die Insel am Horizont ist eine andere.«
»Ja, und sie ist ziemlich stabil«, stimmte Kira nickend zu. Ein geflochtener Zopf rutschte über ihre Schulter, was sie in ihrem unguten Gefühl bestärkte. Sie hatte es seit Jahren nicht gespürt, trotzdem war es so beklemmend wie in ihrer Kindheit.
»Irgendwoher kenne ich diesen Anblick«, murmelte sie. »Ich … weiß nur nicht, woher.«
Aaron nahm ihre Hand. »Dort drüben ist unsere Heimat. Ich bin mir sicher, dass Papa uns zeigen wollte, was aus ihr geworden ist.«
»Augustin.«
»Ja, Augustin. Ist alles in Ordnung?« Seine zehn Jahre alte Stirn legte sich in Falten. »Wir sind gesprungen, erinnerst du dich nicht? Wir haben die Insel verlassen, weil er uns diesen Morsecode geschickt hat. Mit den Sternen.«
Schwallartig kehrte Kiras Erinnerung zurück. Aarons Vater Augustin hatte sie kontaktiert, das erste Mal seit drei Jahren. Ihr Dasein verbrachten Aaron und Kira in einer Computersimulation. Nachdem sie ihre Insel von zwei tyrannischen Forschern befreit hatten, war Augustin an dem Ort geblieben, der offenbar die Realität war. Alle anderen Seelen ahnten nicht, dass sie in einem Programm lebten. Kira hatte schlaflose Nächte damit verbracht, diese absurde Wahrheit zu begreifen. Außerhalb ihrer digitalen Welt hatten sie keine Körper und mussten mit klobigen, langsamen Robotern vorliebnehmen. Sie waren Teil eines Experiments, dessen Zweck Kira zwar verstanden hatte, aber nicht wahrhaben wollte: In der Realität gab es keine Zukunft mehr. Die Erde war wie ein einziger Sandsturm, in dessen Auge ein Institut namens Wyoming Wonders stand. Hunderte, vielleicht tausende Experimente sollten hier irgendeine Lösung für die Probleme der Menschheit finden. Das Experiment von Insel 317 nahm daran nicht mehr teil, und statt den zwei Forschern wachte nun eine einsame Seele über das Programm. Augustin hatte darauf bestanden, dass Kira und Aaron in ihre Heimat zurückkehrten. Sie durften ein möglichst normales Leben führen, wie auch immer das aussehen sollte. Im Notfall wollte Augustin ihnen einen Code schicken.
Eben war genau das passiert. Sechs Sterne hatten ein Wort gemorst, »Springt«. Vom Rand ihrer Heimat zu springen war der Weg zurück in die Realität. Eigentlich.
»Ich … wie konnte ich das vergessen?«, stotterte Kira. Der Boden unter ihren Füßen geriet ins Wanken, zwischen ihren Ohren brauste es.
»Vielleicht ist etwas schiefgegangen, nachdem wir gesprungen sind. Wir wissen ja nicht genau, was passieren kann«, überlegte Aaron laut.
»Überraschung, ihr seid wieder Kinder und dürft euch eure Heimat aus der Ferne ansehen«, imitierte Kira die Stimme von Augustin, den sie seit Jahren nicht mehr in seiner menschlichen Gestalt gesehen hatte. Es kostete sie Mühe, sich an sein gutmütiges Gesicht zu erinnern. Gleichzeitig brodelte Unbehagen in ihrer Magengrube. »Aaron, da stimmt doch etwas nicht! Weswegen sollten wir von der Insel springen?«
»Hm, du hast recht«, murmelte er nachdenklich. Seine Augen wanderten vom Meer zurück zu Kira. »Er hat ja gesagt, dass wir nur im Notfall springen sollen. Das hier ist kein Notfall.« Dann blickte er auf seine Füße. »Spürst du das eigentlich auch?«
Kiras Augen weiteten sich. »Ich dachte, mir wäre schwindelig.«
»Ich auch«, entgegnete Aaron. »Diese Insel ist instabil.«
»Großartig. Da haben wir unseren Notfall.«
Jetzt rüttelte das Beben ihre Knochen durch und verschlimmerte das Surren in Kiras Kopf.
Aaron zog sie vom Abgrund fort. Als sie auf eine Gasse zwischen den Häusern zugingen, neigte sich der Boden in Richtung des Meeres, als wollte die Insel nicht zulassen, dass sie sich vom Fleck rührten. Kira rutschte auf dem Gestein nach unten, aber Aaron hielt sie fest. Schreie durchbrachen den Lärm des Bebens. Hier waren andere Menschen, und plötzlich erinnerte Kira sich an sie. An die dunklen Schemen, die in die Fluten stürzten.
»Diese Insel!«, entfuhr es ihr. »Aaron, diese Insel haben wir untergehen sehen!«
Sie waren an jenen Tag zurückgekehrt, an dem Aaron und sie sich kennengelernt hatten. Der Tag, an dem in ihrer Heimat die erste Grenze gezogen worden war. Der Anfang vom Ende. Und sie waren am völlig falschen Ort.
»Wir haben keine Chance!«, ächzte Kira und krallte sich fester in Aarons Griff. Die Insel neigte sich weiter, die Häuser über ihnen gaben ein beunruhigendes Knarren von sich. »Wir haben gesehen, was passiert!«
»Ich verstehe das nicht«, rief er. Kiras Blick fixierte seine linke Hand, mit der er eine Straßenlaterne umklammerte. »Was sollen wir tun? Papa will uns doch nicht in den Tod schicken!«
Kira hätte beinahe aufgelacht, aber es gelang ihr nicht, die Angst in ihrer Brust zerspringen zu lassen.
»Wir können nicht sterben«, keuchte sie.
Er hielt inne. »Stimmt.«
Dann ließ Aaron die Laterne los. Kira presste die Augen zusammen, als sie rückwärts zum Abgrund schlitterten. Sie verloren den Boden unter ihren Füßen. Jetzt wartete nur der Aufprall, gefolgt von der Antwort auf ihre Fragen. Kiras Kopf schnarrte immer lauter, je tiefer sie fielen, und der Wind riss Aarons Worte aus seinem Mund. Kira konnte ihn nicht verstehen, erkannte seine Panik. Sie musste an die fallenden Schatten denken, die sie als Kind beobachtet hatte. War sie letztlich einer davon gewesen?
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