»Danke«, knurrte er. »Aber ich verzichte.«
»Hm, von mir aus. Dann eben kein Tauschgeschäft.« Mit einem Griff an das blau leuchtende Feld ließ Mortimer den Roboter aufstehen. »Ich bin hier fertig.«
Ohne sein Zutun bewegten sich Augustins Beine, schlossen sich dem Gang des Administrators an. Verzweifelt suchte er verfügbare Befehle durch, aber keiner ließ sich aktivieren. Mortimer lotste ihn durch das Tor, das auf die Flure von Wyoming Wonders führte. Dabei blickte er auf sein Handgelenk, als würde er nach der Uhrzeit schauen.
»Es ist herzzerreißend, dir zuzusehen«, meinte Mortimer. »Erspar dir die Mühe.«
Augustin schwieg. Der Administrator sah also, welche Befehle er ausprobierte. Hoffentlich blieb ihm der Rest seiner Gedanken verschlossen.
Mortimer verriegelte das Tor mit einem nahezu unsichtbaren Wandschalter. Erst vor wenigen Stunden war Augustin das letzte Mal hier gewesen. Vor ihnen lag eine gewaltige Halle. Gegenüber stapelten sich weitere Flure mit hunderten Laboren, Etage um Etage. Das Gebäude von Wyoming Wonders war höher als der Felsen, den Augustin sein Zuhause nannte. Auf dem Glasdach lag Sand mit wenigen freien Flächen dazwischen. In den Sonnenstrahlen tanzte Staub. Es war beunruhigend still.
Auf dem Boden der Halle befand sich das schwarze Steingebilde, das wie eine Mauer den Raum längs teilte. Darauf standen die Namen aller, die Teil der Experimente waren, tausende Seelen für die Wissenschaft. Phil Williams hatte sich damals freiwillig gemeldet, als er den Kampf gegen den Nierenkrebs verloren hatte. Das war schon viele Jahrzehnte her. Er wäre mittlerweile längst tot, selbst ohne den Tumor und seine Metastasen. Der Gedanke, dass es kein Problem war, eine Seele zu speichern und in ein Programm zu übertragen, ängstigte und beruhigte ihn zugleich. Es gab ihm das Gefühl, bis zu einem gewissen Punkt unantastbar zu sein. Zumindest bislang.
Mortimer wandte sich nach rechts. In dieser Richtung befand sich der Aufzug, den die R4-Roboter und Forscher benutzten. Ausnahmsweise schwieg der Administrator den kompletten Weg über. Vermutlich auch, weil Augustin damit aufhörte, Befehle auszuprobieren. Seine Gedanken rasten weiter und suchten nach einem Ausweg.
Am Ende des Flures stiegen sie in den Aufzug. Mortimer drückte einen Knopf, sie fuhren nach oben. All das nahm Augustin nur gedämpft wahr, als hätte jemand seine Sensoren manipuliert. Eine der Warnungen seines Systems ließ sich zudem nicht mehr aus seinem Sichtfeld entfernen und verharrte am rechten Bildrand.
Warnung. Fremdsteuerung. Eingeschränkter Zugriff.
Augustin seufzte innerlich. Als ob er das noch nicht bemerkt hätte.
Lautlos blieb der Aufzug stehen und öffnete seine Türen. Sie stiegen in der Etage direkt unterhalb der Glasdecke aus. Zu gerne hätte Augustin die warmen Sonnenstrahlen auf seinen Plastikgelenken gespürt. Der Flur führte wie in den übrigen Etagen in einer geraden Linie an der Wand entlang, doch hier gab es offenbar ein anderes, spezielles Labor. Beinahe unsichtbar schmiegte sich rechts neben dem Aufzug eine Tür in das Mauerwerk. Daneben war ein kleines Metallschild angebracht worden.
Labor 001/002
Darunter befand sich schwarzes Klebeband, das mehr Schrift verdeckte. Mortimer hielt seinen Unterarm an den Griff, erhielt einen Piepton zur Antwort und stieß die Tür auf.
»Willkommen.« Mortimer ließ Augustin wie einen benutzten Regenschirm mitten im Raum zurück und ging zu einer exorbitanten Bildschirmwand herüber. Mehrere Inseln flimmerten darauf, manche schneebedeckt, manche ohne ersichtliche Küste, manche nachtschwarz. Davor befand sich ein U-förmiger Schreibtisch mit benutzten Getränkedosen und halb geleerten Popcornschachteln darauf. Im Grunde war dieses Labor wie das von Insel 317, nur ein wenig opulenter. Augustin fragte sich, was er hier verloren hatte.
»Oha«, machte Mortimer nach einem raschen Blick auf einen der unteren Monitore. Er setzte sich auf den linken Drehstuhl und machte eine beiläufige Handbewegung, als würde er Augustin einen Gefallen abschlagen. »Bin gleich wieder zurück. Fass nichts an.«
Augustin wollte gerade etwas erwidern, als der Kopf des Administrators nach unten sackte.
Nicht einmal in der Realität war Kira so verloren gewesen. Ihre Füße wussten, wohin sie gingen, aber teilten dem Kopf nichts mit. Vermutlich wollten sie bloß nicht stehenbleiben. Mittlerweile kreisten ihre Gedanken um Aaron. Würde sie ihn überhaupt finden können? Wahrscheinlich war er an einem völlig anderen Ort – real oder nicht – und steckte ebenfalls in einem fremden Körper. Trotzdem hoffte sie an jeder Kreuzung, dass er ihr lächelnd entgegenkam und die Antworten mitbrachte, nach denen Kira sich sehnte.
Gleichzeitig hielt sie die Augen nach Juniper offen. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie die Forscherin um Hilfe bitten wollte oder nicht. Anscheinend hatte Juniper nicht bemerkt, dass ihre Geliebte durch eine fremde Person ersetzt worden war. Kira wollte sich nicht ausmalen, wie schlimm diese Erkenntnis sein würde.
Gelegentlich kamen ihr Menschen entgegen, die sie nicht wahrzunehmen schienen. Obwohl es mitten am Tag war, glommen einige elektrische Laternen. Die meisten von ihnen waren jedoch zerstört. Kira löste ihren Blick vom zersprungenen Glas und lief gegen etwas Hartes.
»Verzeihung«, murmelte sie reflexartig. In diesem Moment begriff sie, wogegen sie gestoßen war. Kira starrte in die blinkende Leuchtdiode eines Roboters. Panik schwappte wild rauschend von ihrer Magengrube bis in die Ohren. Das klobige Plastikskelett ähnelte einem Raumanzug. Auf der Brust stand in orangefarbenen Lettern »R4«. Statt eines humanoiden Kopfes besaßen sämtliche Roboter von Wyoming Wonders eine transparente Kuppel, unter der sich unzählige Kabel tummelten. Kira wusste aus eigener Erfahrung, dass diese Körper schwerfällig waren. Wenigstens würde sie im Falle eines Angriffes ausweichen können. Der R4 machte allerdings nicht den Eindruck, als würde er sich jeden Moment auf sie stürzen. Eher wirkte er, als solle Kira endlich Platz machen, damit er seinen Weg fortsetzen konnte.
»V-verzeihung«, wiederholte Kira errötend und trat zur Seite. Sofort setzte sich der R4 in Bewegung. Er war wesentlich langsamer als die Modelle, die Kira in der Realität gesehen hatte. Was hatte er hier zu suchen? Soweit sie wusste, durchquerten die R4 Wyoming Wonders, um alle Daten zu übertragen, die zu groß für das interne Netzwerk waren, Sicherheitskopien von Experimenten oder geheime Dokumente. Der R4 von Insel 317 – so viel wusste Kira von Augustin – hatte sich nie im dazugehörigen Labor aufgehalten. Zumindest hatte Augustin ihn nie gesehen. Verwirrt schaute Kira dem Roboter hinterher, während ihr Herz jagte. Ihr Kopf feuerte einen Gedanken nach dem anderen ab. Sie brauchte Aaron, um den Überblick zu behalten und die Dinge etwas klarer zu sehen. Er konnte das. Sie seufzte. Eigentlich wusste sie, was sie tun sollte, denn der beste Ausweg war, zu Juniper zurückzukehren und sie um Hilfe zu bitten. Allein der Gedanke verursachte ein weiteres Magengrummeln. Zunächst brauchte sie einen Beweis. Kira musste ihr verdeutlichen, dass sie nicht Carla war, zumindest nicht jene Carla, die Juniper liebte. Sie sah ansonsten keine Möglichkeit, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie noch nicht die Orientierung verloren. Kira fand den Rückweg durch das Gewirr der Gassen problemlos und stand schneller als gedacht vor Junipers Haus. Obwohl hier mehr Leute unterwegs waren, drückte die Stille auf diesen Teil der Insel. Kira räusperte sich und klopfte an die Vordertür. Keine Antwort. Auch ihr zweites Klopfen blieb ungehört. Kira atmete langsam aus. Das war mal wieder typisch. Sobald sie sich traute, war es zu spät.
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