»Schade, die blöde Ziege ist vermutlich in die andere Richtung gerannt.« Er seufzte, doch dann zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Das nächste Mal wird sie nicht so leicht davonkommen.« Er leckte sich genussvoll die Lippen. »Ich kann’s kaum erwarten, bis Papas Häscher sie in die Finger kriegt. Gegen den hat sie nicht die geringste Chance.«
»Welcher Häscher?«, fragte Henry. Auch der kleine Toby, der gerade Ralph Sinclairs Globus entdeckt hatte und mit dem Finger um die Achse drehte, hielt interessiert inne.
Eine Weile konnte man nur hören, wie George mit seinem Stiefelabsatz gleichmäßig auf die Dielen klopfte. Das Pochen wurde immer schneller, bis es jäh aufhörte.
Alyss in ihrem Versteck hielt erregt die Luft an.
»Papa hat sich einen genialen Plan ausgedacht, wie er sich Alyss vom Hals schaffen kann«, verkündete George schließlich, während er selbstgefällig grinste. »Sie wird bald für immer von hier verschwinden.«
Was sollte das bedeuten? Alyss lief ein kalter Schauer über den Rücken. Hatton Hall war ihr Zuhause. Auch wenn sich in den vergangenen Monaten viel geändert hatte, war sie stets davon überzeugt gewesen, dass die Ratcliffs sich nur vorübergehend einquartiert hatten. Nachdem ihr Vater von seiner letzten Seereise nicht zurückgekehrt war, hatte der Staat Onkel Humphrey, einen entfernten Vetter ihres Vaters, als ihren Vormund ernannt. Sie war erst zwölf und konnte sich nicht allein um das Landgut kümmern. Kurz darauf war Onkel Humphrey mit seiner ganzen Familie – Cybill, seiner Frau, und George, Henry und Toby, seinen drei Söhnen – angerückt.
Alyss hatte schon bald gemerkt, dass Humphrey nie das Wohl seines Mündels im Auge hatte, sondern nur seine eigenen Interessen, denn vom ersten Tag an verhielten sich die Ratcliffs, als seien sie die Herren von Hatton Hall, und behandelten Alyss wie eine Küchenmagd. Der Vormund entließ den Gutsverwalter Thomas und seine Frau Beth, die sich stets wie eine Mutter um das Mädchen gekümmert hatte. Selbst der alte Gärtner und der Stallknecht wurden ausgewechselt. An den ewigen Haferbrei, den man ihr neuerdings zu essen gab, hatte sie sich schon fast gewöhnt. Doch dass die Ratcliffs nun vorhatten, Alyss ein für alle Mal aus dem Weg zu schaffen, das hätte sie niemals für möglich gehalten. Sie drückte ihr Auge dichter ans Guckloch.
»Alyss geht fort von hier?«, staunte Henry. »Wieso?«
»Nicht freiwillig, du Dummkopf. Vater wird sie gegen ihren Willen wegschaffen.«
»Erzähl schon.« Einen Augenblick lang konnte man keinen Laut hören.
»Erinnert ihr euch an Vaters neuen Freund, der vor einigen Wochen hier auftauchte?«, begann George schließlich.
»Den Mann aus London mit der großen Nase?« Henry schnippte mit den Fingern.
»Genau der!« George senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: »Papa hat ihn beauftragt, das Mädchen zu beseitigen.«
Beseitigen? Was hatte der Onkel mit ihr vor? Plötzlich hatte Alyss das Gefühl, dass ihr im Priesterloch die Luft ausging.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe ihr Gespräch vom Flur aus mitgehört.« Der ältere Bruder blickte die beiden jüngeren triumphierend an, während er sich eine fettige Haarsträhne aus der Stirn strich.
»Und? Was haben sie besprochen?«
»Also, erst mal waren sich beide einig, dass Vater ohne Alyss Herr von Hatton Hall wäre.«
»Aber Vater ist ihr Vormund. Er hat doch ohnehin das Sagen«, erwiderte Henry.
»Nur solange sie noch ein Kind ist. Du Blödmann! Wenn sie volljährig wird, ändert sich das. Sie wird das Landgut erben, und unsere Familie wird wieder so arm wie die Kirchenmäuse sein. Und deswegen soll Alyss von hier weg.« Seine Stimme war so leise geworden, dass Alyss ihn nur noch mit Mühe verstand. »Papas Freund hat dann angeboten, das zu erledigen. Als Gegenleistung soll Papa irgendwas für ihn suchen. Auf jeden Fall wird der Mann bald wiederkommen, um sich Alyss zu holen.«
»Und was hat er mit ihr vor?«
George zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Mama kam den Gang entlang und ich habe den Rest nicht mehr mitbekommen. Ich kann mir da allerdings so einiges vorstellen, wie man ein Mädchen auf Nimmerwiedersehen loswird. Zum Beispiel könnte er sie in einen Sack stecken und wie eine Katze im Fluss ersäufen.«
Alyss schauderte. Das würde sie den Jungen tatsächlich zutrauen.
»Wie wäre es mit Bedlam?« Auch Henry schien es zu gefallen, sich auszumalen, wie man Alyss fortschaffen könnte. Vor Aufregung waren seine abstehenden Ohren rot angelaufen.
»Bedlam?«, unterbrach ihn Toby. »Was ist das?«
»Das ist ’ne Klapsmühle in London, in die sie Irre stecken. Wer dort landet, kommt nicht so schnell wieder raus.«
»Aber Alyss ist doch nicht verrückt.«
»Egal. Das spielt keine Rolle.«
»Und jetzt? Sollen wir weiter nach ihr suchen?« Toby blickte fragend von Henry zu George.
»Nee. Keine Lust mehr.« George erhob sich vom Armstuhl und ging auf die Tür der Bibliothek zu. »Ich habe eine bessere Idee. Wir gehen in die Küche. Dort roch es vorhin nach Mandelpastetchen. Alyss können wir ruhig Papas Freund überlassen.«
Das ließen sich seine beiden Brüder nicht zweimal sagen. Einen Augenblick später schlug die Bibliothekstür zu und die Schritte der Jungen verhallten im Gang.
Alyss dagegen rührte sich nicht von der Stelle. Wie gelähmt stand sie in ihrem Schlupfwinkel hinter dem Regal. Nach einer Weile sank sie zu Boden und schlang ihre Arme um die Knie. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Obwohl sie fest entschlossen war, nicht zu weinen, traten ihr Tränen in die Augen und begannen die Wangen hinabzukullern. Noch nie hatte Alyss sich so alleine und so verlassen gefühlt. Am liebsten hätte sie sich hier im Priesterloch wie in einem Schneckenhaus verkrochen und ihr Versteck nie wieder verlassen. Aber während sie hinter dem Bücherregal langsam verhungerte, würde der Besitz ihres Vaters an Onkel Humphrey gehen. Nein, das durfte sie auf keinen Fall geschehen lassen. Sie musste handeln und Hatton Hall vor den bösen Plänen des Onkels beschützen. Entschlossen schniefte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Eines war klar: Sie musste weg von hier, bevor Onkel Humphreys Häscher zurückkam.
Wie sehr sie ihren Vater vermisste! In Gedanken konnte Alyss ihn deutlich an seinem Schreibtisch sehen, über Seekarten gebeugt, die schulterlangen braunen Haare hinter die Ohren geklemmt. Egal wie beschäftigt er gewesen war, für Alyss hatte er immer Zeit gehabt, und früher, als sie klein gewesen war und sich vor allen möglichen Dingen gefürchtet hatte, brauchte sie nur auf seinen Schoß zu klettern. Er hatte sie getröstet, bis alles wieder gut war. Aber ihr Vater war nicht hier. Er würde nicht vom Meeresgrund zurückkehren, um die Ratcliffs aus dem Haus zu verjagen und Thomas und Beth wieder einzustellen.
Ralph Sinclair war nun schon vor mehr als einem Jahr sorglos und zuversichtlich, wie so oft zuvor, in die Neue Welt gesegelt. Alyss wusste, dass er im Auftrag des Königs reiste, um Seine Majestät mit Berichten aus den Kolonien zu versorgen. Sosehr ihr der Vater jedes Mal fehlte, hatte sie nie daran gezweifelt, dass er nach jeder abenteuerlichen Expedition wohlbehalten zu seiner Tochter nach Hatton Hall zurückkehren würde. Die traurige Nachricht, die Alyss genau acht Wochen nach seiner Abreise erhielt, traf sie völlig unvorbereitet. Wie konnte es möglich sein, dass die Aurora mitsamt ihrer Besatzung und ihrem Vater nie in Jamestown angekommen war? Das Schiff, vom Ozean verschluckt, spurlos verschwunden blieb? Trotz aller Vermutungen, dass sie Schiffbruch erlitten hätten und die Mannschaft ertrunken sei, hoffte Alyss noch immer auf die Rückkehr ihres Vaters. Sie glaubte fest daran, ihren Vater eines Tages wiederzusehen, und dann würde alles endlich wieder gut werden. In der Zwischenzeit musste sie etwas unternehmen. Doch was konnte eine Zwölfjährige allein gegen einen erwachsenen Mann ausrichten? Absolut gar nichts. Sie musste Hilfe holen. Aber wen? Außer den Ratcliffs hatte sie keine Verwandten, und sie hatte keine Ahnung, wohin es die treuen Diener Thomas und Beth verschlagen hatte. Plötzlich durchzuckte sie eine Erinnerung. Ja, natürlich ... das war es. Da gab es doch noch jemanden, der ihr helfen könnte. Jetzt brauchte sie nur noch einen Plan.
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