Julian machte sich unverzüglich auf den Weg nach Verrières, und zwar zu Fuß, auf dem Höhenpfad durch den Wald. Er hatte es durchaus nicht eilig, zu Chélan zu kommen. Vor dem guten Pfarrer die Komödie der Heuchelei weiterzuspielen, dazu spürte er die geringste Lust. Vielmehr hatte er das Bedürfnis, mit sich selbst ins klare zu kommen und das Chaos in seiner Seele zu belauschen.
»Ich habe eine Schlacht gewonnen!« frohlockte er, als er in der Einsamkeit des Hochwaldes dahinschritt, fern den Blicken der Menschen. »Ich habe eine Schlacht gewonnen!«
Dieser Siegesruf durchsonnte ihm all sein Lebensleid. Etwas wie Frieden zog in seine Brust ein.
»Jetzt habe ich also fünfzig Franken Monatsgehalt. Mich dünkt, Herr von Rênal hat eine Heidenangst vor mir. Warum denn eigentlich?«
Der Gedanke, einem so glücklichen und mächtigen Manne, auf den er vor kaum einer Stunde wütend gewesen, doch Furcht eingejagt zu haben, stimmte ihn vollends heiter. Einen Augenblick lang ergriff ihn sogar die wunderbare Schönheit des Waldes, durch den er wanderte. Hohe nackte Felsenblöcke, vor Urzeiten vom Kamme der Berge hierher gerollt, reckten sich unter den riesigen Rotbuchen, fast gleich hoch wie diese. Aus dem Gestein drang köstliche Kühle, während ein paar Schritte weiter die unerträglichste Sonnenglut brannte.
Im Schatten der hohen Felsen rastete Julian eine Weile. Dann stieg er weiter, einen schmalen, kaum erkennbaren Saumpfad empor, den nur die Ziegenhirten benutzten. So gelangte er auf einen Vorsprung.
Kein Mensch weit und breit. Ungestört stand Julian da droben. Lachend. So frei wie hier körperlich, auch geistig und seelisch zu sein, das war seine heißeste Sehnsucht! Die lichte leichte Höhenluft erfüllte ihn mit heiterem Frieden, ja mit Glückseligkeit.
Von neuem erinnerte er sich des Bürgermeisters von Verrières als des Vertreters aller Reichen und aller derer, die sich etwas anmaßten auf Erden. Aber zugleich fühlte Julian, dass sein Hass, so mächtig er ihn durchloderte, nichts mit der Person eines Einzelnen zu tun hatte. Wenn er nie wieder in das Haus des Herrn von Rênal hätte zurückkehren müssen, so hätte er ihn in acht Tagen vergessen, ihn samt seinem Schloss, seinen Hunden, seinen Kindern und seiner ganzen Familie.
»Ich habe ihn, ich weiß selber nicht warum, zu einem Opfer gezwungen«, sagte er sich. »Sechsundfünfzig Taler mehr im Jahre… und dies ein paar Minuten, nachdem ich der größten Gefahr entronnen! Also zwei Siege an einem Tage! Der zweite ist allerdings nicht mein Verdienst. Ich muss doch noch erspüren, wie das zugegangen ist. Morgen werde ich das erkunden!«
Hochaufgerichtet stand Julian auf seinem Felsen und schaute in den Himmel, den die Augustsonne durchflammte. Zu Füßen der Felswand zirpten die Grillen. Wenn sie zeitweise verstummten, war Totenstille ringsumher. In der Tiefe dehnte sich das Land zwölf Meilen in die Ferne. Ein Weih flog aus den Felsenhängen zu seinen Häupten auf und zog seine weiten Kreise in der endlosen Stille. Julians Blick folgte dem Raubvogel unwillkürlich. Der ruhige erhabene Flug ergriff ihn. Er beneidete das Tier um seine Kraft. Er beneidete es um seine Einsamkeit.
»Napoleons Schicksal war so!« dachte er bei sich. »Wird dereinst auch das meine so sein?«
Julian musste sich unbedingt in Verrières zeigen. Als er aus dem Pfarrhause kam, fügte es ein glücklicher Zufall, dass er Herrn Valenod begegnete. Unverzüglich berichtete er ihm die Gehaltserhöhung.
Wieder in Vergy, begab er sich erst nach Anbruch der Dunkelheit hinunter in den Garten. Seine Seele war erschöpft von den vielen Seelenerregungen, die er den Tag über durchgemacht hatte.
»Was soll ich ihnen nur sagen?« fragte er sich unruhig, als er der Damen gedachte. Er ahnte nicht, dass er sich in einem Zustande befand, in dem er just für Kleinigkeiten Sinn hatte, also für das, was im Leben der Frauen gewöhnlich die Hauptsache ist. Oftmals war er Frau Derville und sogar ihrer Freundin unverständlich, und er seinerseits begriff häufig nur halb, was ihm die beiden sagten. Das war die Folge der Kraftfülle und, wenn man das so nennen darf, der Großartigkeit des leidenschaftlichen Innenlebens, das die Seele dieses ehrsüchtigen jungen Mannes verwirrte. In diesem Sonderling war fast Tag für Tag Sturm.
An diesem Abend kam Julian in einer Stimmung in den Garten, die ihn befähigte, sich in der Gedankenwelt der beiden hübschen Frauen zurechtzufinden. Sie hatten ihn mit Ungeduld erwartet. Er nahm seinen gewöhnlichen Platz ein, neben Frau von Rênal. Bald ward es völlig dunkel. Julian wollte die helle Hand ergreifen, die er schon lange neben sich auf der Stuhllehne schimmern sah. Nach einigem Zaudern entwich sie ihm, offenbar zum Zeichen der Ungnade. Julian ließ sich dies gesagt sein, plauderte aber munter weiter, zumal er Herrn von Rênal kommen hörte. Noch lagen ihm die groben Worte vom Vormittag in den Ohren.
»Wäre es nicht die gegebene Verhöhnung dieses Individuums«, sagte er zu sich, »dieses Erbpächters der irdischen Glücksgüter und Vertreters des Mammons, wenn ich ausgerechnet in seiner Gegenwart von der Hand seiner Frau Besitz ergriffe? Ja, das werde ich tun, ich, dem er seine Verachtung genugsam bezeigt hat!«
Fortan war die Ruhe, die Julians Wesen ohnehin ziemlich fremd war, ganz und gar hin. Das bange Verlangen, Frau von Rênal solle ihm ihre Hand überlassen, ließ ihn an nichts andres mehr denken.
Der Bürgermeister sprach in aufgeregtem Tone von Politik. Ein oder zwei Fabrikbesitzer von Verrières seien nahe daran, reicher zu werden denn er. Sie hätten die Absicht, ihn bei den nächsten Wahlen an die Wand zu drücken. Frau Derville hörte ihm zu. Julian, den diese Rederei ärgerte, rückte seinen Stuhl dicht an den der Frau von Rênal. Die Dunkelheit verbarg jedwede Bewegung. Er wagte seine Hand ihrem schönen Arm anzuschmiegen. Sie ging kurzärmelig. Julian ward wirr zumute. Der Verstand verließ ihn. Er bückte sich und berührte den bloßen Arm mit seiner Wange. Schließlich drückte er seine Lippen darauf.
Frau von Rênal erbebte. Ihr Ehemann saß nur vier Schritte davon. Rasch umfasste sie Julians Hand und stieß sie im selben Moment sanft zurück. Währendem Herr von Rênal fortfuhr, auf die Pfennigfuchser und die hochgekommenen Jakobiner zu schimpfen, bedeckte Julian die ihm nun überlassene Hand mit heißen Küssen. Wenigstens dünkten sie ihr heiß.
Noch am Morgen dieses ereignisvollen Tages hatte die arme Frau den greifbaren Beweis in den Händen gehalten, dass der, den sie liebte, ohne es sich einzugestehen, eine andere im Herzen trug. Solange er fort gewesen war, hatte sie sich sterbensunglücklich gefühlt. Sie hatte sich gesagt: »Wie? Sollte ich Julian lieben? Ich verliebt? Ich, eine verheiratete Frau, ich bin verliebt! Niemals habe ich für meinen Mann dieses Hangen und Bangen verspürt, das meine Gedanken immer wieder zu Julian führt. Er ist doch nur ein Kind, voller Respekt zu mir. Und ich bin toll. Es wird vorübergehen. Übrigens: was gehen meinen Mann die Gefühle an, die ich für den jungen Menschen wohl hege? Meinen Mann würden Gespräche, wie ich sie mit Julian führe, über imaginäre Dinge, zu Tode langweilen. Seine Gedanken gelten immer nur seinen Geschäften. Somit nehme ich ihm nichts von dem, was ich Julian gebe.«
Nicht die geringste Heuchelei trübte die Lauterkeit ihrer naiven Seele, die durch die erste erlebte große Leidenschaft verführt wurde. Ahnungslos ward sie deren Opfer, und doch nicht, ohne dass ein dunkles Gefühl sie gewarnt hätte. Als Julian im Garten erschien, hatte es in ihr gekämpft. Sie hörte seine Stimme, und fast im selben Augenblick saß er ihr schon zur Seite. Ihre Seele jubelte auf in der Wonne eines Glückes, das sie seit vierzehn Tagen mehr als ein Wunder denn als Verführung empfand. Das alles kam so unerwartet. Immerhin fragte sie sich nach einigen Augenblicken: »Seltsam! Julians Anwesenheit genügt also, um das Leid, das er mir angetan, wieder gutzumachen?« Erschrocken hatte sie ihm die Hand entzogen.
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