Ich sagte: »Ich würde gern Mr. Jackson Wells sprechen.«
»Okay«, nickte sie. »Sekunde.«
Sie ging die Diele entlang, bog nach links aus meinem Blickfeld, und schon tauchte ein schlanker, schlaksiger blonder Mann auf, der aussah, als wäre er noch keine Fünfzig.
»Sie wollten mich sprechen?« fragte er.
Ich blickte zum Tor, wo noch der schwerhörige alte Griesgram stand.
»Mein Vater«, sagte der blonde Mann, meinem Blick folgend.
»Mr. Jackson Wells?«
»Der bin ich«, sagte er.
»Oh!«
Er grinste über meine Erleichterung mit einer unbeschwerten Fröhlichkeit, die kilometerweit von meinen Erwartungen entfernt war. Er wartete ruhig darauf, daß ich mich vorstellte, und sagte schließlich: »Habe ich Sie schon mal irgendwo gesehen?«
»Glaube ich nicht.«
»Im Fernsehen«, meinte er unsicher.
»Ach so. Tja - haben Sie sich gestern das Lincoln angeschaut?«
»Ja, schon, aber.«
Er runzelte die Stirn, konnte sich nicht genau entsinnen.
»Mein Name«, sagte ich, »ist Thomas Lyon, und ich war ein Freund von Valentine Clark.«
Eine Wolke zog über Jackson Wells’ sonnige Gesichtslandschaft.
»Der arme Kerl ist diese Woche gestorben«, sagte er. Endlich drang mein Name zu ihm durch. »Thomas Lyon. Etwa der, der den Film dreht?«
»Derselbe«, stimmte ich zu.
»Dann hab ich Sie gestern im Fernsehen gesehen, mit Nash Rourke.«
Er schätzte mich schweigend ab und rieb dann unschlüssig die Nase an seinem Handrücken.
Ich sagte: »Ich möchte Ihnen mit dem Film in keiner Weise schaden. Deshalb bin ich hier. Ich wollte fragen, ob es etwas Bestimmtes gibt, das in dem Film nicht ausgesprochen werden soll. Denn manchmal«, erklärte ich, »erfindet man Sachen - oder glaubt sie zu erfinden -, die sich als unangebrachte Wahrheiten entpuppen.«
Er überlegte und sagte schließlich: »Es ist wohl besser, Sie kommen mal rein.«
»Danke.«
Er führte mich in ein kleines Zimmer nahe der Tür; ein unbewohnter Raum, dessen ganze Einrichtung aus Klavier und Klavierhocker, einem einfachen Holzstuhl und einem geschlossenen Schrank bestand. Er setzte sich auf den Klavierhocker und teilte mir den Stuhl zu.
»Spielen Sie?« fragte ich höflich, auf das Klavier deutend.
»Meine Tochter, Lucy, Sie haben sie gesehen.«
»Mhm«, nickte ich. Ich holte tief Luft und sagte: »Eigentlich bin ich gekommen, um Sie nach Yvonne zu fragen.« »Nach wem?«
»Yvonne. Ihrer Frau.«
»Sonia«, sagte er mit schwerer Stimme. »Sie hieß Sonia.«
»In Howard Tylers Buch hieß sie Yvonne.«
»Ja«, stimmte er zu. »Yvonne. Hab ich gelesen, das Buch.«
Da er weder Zorn noch Kummer zu empfinden schien, fragte ich: »Wie fanden Sie’s?«
Unerwarteterweise lachte er. »Bescheuert. Traumliebhaber! Und dann der Oberschichtenhampel in dem Buch, der ich sein sollte! Pfft.«
»In Film sind Sie ganz bestimmt kein Hampel.«
»Es stimmt also? Nash Rourke spielt mich ?«
»Er spielt den Mann, dessen Frau erhängt aufgefunden wird, ja.«
»Wissen Sie, was?«
Er strahlte wie die Sonne, und das Lächeln in seinen Augen konnte schwerlich unecht ein. »Das ist alles so verdammt lange her. Mir ist es piepegal, was Sie in dem Film erzählen. Ich kann mich an Sonia jedenfalls kaum erinnern. Das war ein anderes Leben. Ich hab es hinter mir gelassen. Ich hatte die Nase voll von der ganzen Angelegenheit. Ich war ja erst zweiundzwanzig, als ich Sonia heiratete, und noch keine fünfundzwanzig, als sie starb, und eigentlich war ich noch ein Kind. Ein Kind, das den großen Newmarketer Trainer spielte. Nach der Geschichte holten die Leute ihre Pferde weg, also hab ich eingepackt und bin hierhergezogen, und hier lebt sich’s ganz gut, Kollege, ich kann nicht klagen.«
Da er mir recht unbefangen darüber zu reden schien, fragte ich: »Weshalb, ehm. weshalb ist Ihre Frau gestorben?«
»Sagen Sie Sonia. Ich betrachte sie nicht als meine Frau. Meine Frau ist hier im Haus. Lucys Mutter. Wir sind jetzt dreiundzwanzig Jahre verheiratet, und wir bleiben es auch.«
Sein ganzes Auftreten war geprägt von einer offensichtlichen Zufriedenheit. Er hatte den wettergegerbten Teint und die geäderten Wangen eines Mannes, der im Freien arbeitet, seine blonden Brauen hoben sich auffallend gegen die braune Haut ab. Blaue Augen ohne Falsch. Seine Zähne sahen gesund aus, ebenmäßig und weiß. Weder in den langen Gliedern noch an dem drahtigen Hals war Spannung auszumachen. Ich hielt ihn für kein großes Licht, aber für einen jener Glücklichen, die mit wenig zufrieden sein konnten.
»Darf ich Sie nach ihr fragen?« sagte ich.
»Nach Sonia? Bitte sehr. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, weshalb sie gestorben ist, denn das weiß ich nicht.«
Jetzt, dachte ich, hat er mich zum erstenmal belogen.
»Die Polizei hat mich verhört«, meinte er lächelnd. »Ich sei bei den Ermittlungen behilflich, teilte sie der Presse mit. Da dachten natürlich alle, der war’s. Fragen über Fragen! Tagelang. Ich sagte nur, ich wüßte nicht, warum sie gestorben sei. Immer und immer wieder. Sie waren ziemlich sauer. Sie dachten nämlich, sie könnten mir ein Geständnis abringen.«
Er lachte. »Anscheinend finden sie manchmal Dummköpfe, die Sachen zugeben, die sie nicht getan haben. Also mir ist das unbegreiflich. Wenn man etwas nicht getan hat, dann sagt man das und bleibt dabei. Mal wenigstens in England. Gibt ja hier keine Daumenschrauben mehr, oder?«
Wieder lachte er über seinen kleinen Scherz. »Ich sagte ihnen, sie sollten die Kurve kratzen und rausfinden, wer sie wirklich umgebracht hat, aber das haben sie nicht hingekriegt. Sie wollten nur eins, mein Geständnis. Ich meine, das war doch doof. Würden Sie einen Mord gestehen, den Sie nicht begangen haben?«
»Ich glaube nicht.«
»Eben. Aber die - stundenlang, tagelang! Ich habe gar nicht mehr hingehört. Ich wollte mich von denen nicht verrücktmachen lassen. Ich habe nur dagesessen wie ein Stein und regelmäßig gesagt, sie könnten mich mal.«
»Die waren sicher begeistert«, meinte ich trocken.
»Sie machen sich über mich lustig!«
»Aber nein«, versicherte ich ihm. »Ich finde, Sie waren großartig.«
»Ich war jung«, sagte er vergnügt. »Dauernd haben sie mich nachts rausgeklingelt. Die Trottel haben nicht akzeptiert, daß ich oft die halbe Nacht wegen kranker Pferde auf war. Koliken und so was. Ich bin einfach eingenickt, wenn die sich da über Sonia ereifert haben. Die waren restlos geschafft.«
»Mhm«, meinte ich und fragte zögernd: »Haben Sie Sonia gesehen. ich meine, ehm.?«
»Ob ich sie hängen gesehen habe? Nein. Ich habe sie im Leichenschauhaus gesehen, Stunden nachdem sie sie losgeschnitten hatten. Da sah sie dann friedlich aus.«
»Sie haben sie also nicht gefunden?«
»Nein. Da hatte ich wohl Glück. Einer von meinen Stallangestellten fand sie, als ich unterwegs nach York zum Pferderennen war. Die Polizei hat mich abgeholt, und schon da stand für sie fest, daß ich Sonia umgebracht hatte. Sie war in einer Box, die damals leerstand. Dem armen Burschen, der sie gefunden hat, kam acht Tage lang das Essen hoch.« »Dachten Sie, sie habe sich selbst erhängt?«
»Dafür war sie nicht der Typ.«
Langgehegte Zweifel sprachen aus seiner Miene. »Da war ein Stapel Heuballen, von dem könnte sie runtergesprungen sein.«
Er schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit hat nie jemand herausgebracht, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, das ist auch besser so. Ich habe in diesem Drumbeat gelesen, daß Sie der Sache nachgehen. Mir wäre es offen gestanden lieber, Sie ließen das sein. Ich will nicht, daß meine Frau und Lucy beunruhigt werden. Das wäre ihnen gegenüber nicht anständig. Erfinden Sie doch Ihre Filmstory, wie Sie sie brauchen. Solange Sie’s nicht hinstellen, als hätte ich sie umgebracht, soll es mir recht sein.«
Читать дальше